Postenvergabe in der EU: Tetris für Fortgeschrittene

Eure tägliche Dosis Europe to Go fasst für euch zusammen, was gerade in Europa wichtig ist. Heute klären wir, wie nach der Europawahl eigentlich die Chefposten der europäischen Institutionen besetzt werden, vom Präsidenten des Europaparlaments bis zum Kommissionsvorsitzenden. Diese Platzvergabe ist knifflig wie ein Tetris-Puzzle: Es gibt viele Spielregeln, verschiedene Strategien und natürlich Schummler.

Die Europawahl ist vorbei, aber wie geht es weiter? Die EU spielt Tetris®! Denn jetzt werden fünf wichtige Chefposten neu vergeben.

Die EU wechselt nicht nur den Präsidenten des neu gewählten Europaparlaments. Sondern die Frage ist auch: Wer übernimmt Donald Tusks Platz als EU-Ratschef? Wer ersetzt Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank? Wer wird nach Federica Mogherini die neue EU-Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik? Oder wird es ein Mann? Und, ganz wichtig: Wer übernimmt den Vorsitz der EU-Kommission und löst so Jean-Claude Juncker ab?

Wie die Lücken gefüllt werden, das ist ein echtes Strategiespiel. Denn alle europäischen Parteien und Länder wollen mitmachen - und es gibt es viele Spielregeln.

 

Die Spielregeln

Das Parlament wählt seinen Präsidenten selber. Die Staats- und Regierungschefs wählen den Präsidenten des Europäischen Rats und den der Europäischen Zentralbank. Sie stimmen auch für einen EU-Außenvertreter, allerdings muss der danach noch vom Parlament angenommen werden und vom Präsidenten der Europäischen Kommission.

Tja und eben jener Kommissionschef, also sozusagen der "Regierungschef" der EU, der wird in drei Stufen nominiert:

Zuerst bespricht der aktuelle EU-Ratschef mit den verschiedenen Gruppen im Europaparlament geeignete Kandidaten. Dann weiß er also, für wen sich eine Mehrheit abzeichnet und kann die Staats- und Regierungschefs beraten.

Die müssen sich mit einer qualifizierten Mehrheit auf einen Kandidaten einigen. Diesen einen Kandidaten schlägt der Rat wiederum dem EU-Parlament vor. Und das muss mit absoluter Mehrheit zustimmen.

Das heißt, wir EU-Bürger haben da gar nichts zu melden? Naja, eigentlich schon! Für mehr Mitspracherecht wurde 2014 das sogenannte "Spitz-Prinzip" eingeführt. Das besagt, dass die Fraktion, die die Europawahl gewinnt, auch den Kommissionschef stellt. Und zwar ihren Spitzenkandidaten.

Nehmen wir mal das diesjährige Beispiel: Die meisten EU-Bürger haben für konservative Parteien gestimmt, also sollte auch ihr Spitzenkandidat Präsident der EU-Kommission werden, nämlich der Deutsche Manfred Weber.


Der Kniff
So einfach ist das aber nicht. Webers Europäische Volkspartei hat zwar gewonnen, aber ohne Mehrheit im Parlament. Es fehlt ihm also an Rückhalt.

Und das Spitz-Prinzip ist auch nicht unumstritten. Es gibt sozusagen zwei Fronten: Auf der einen Seite das EU-Parlament, das will, dass ein Spitzenkandidat Chef der EU-Kommission wird. Auf der anderen Seite die Staats-und Regierungschefs, von denen viele mit dem Spitz-Prinzip gar nicht glücklich sind. Früher konnten sie unabhängig und hinter verschlossenen Türen über einen Kandidaten entscheiden. Und die Macht wollen sie natürlich gerne behalten.

 

Problem Nummer 2: das Gesamtpaket. Am Anfang haben wir euch ja schon gesagt, dass es nicht nur um den Chef der Kommission geht, sondern noch um vier andere wichtige Posten. Und wenn schon nicht jedes Mitgliedsland und jede politische Familie den Regierungschef stellen kann, dann sollen zumindest die übrigen Jobs fair aufgeteilt werden.

Das Tetris® muss austariert werden zwischen den verschiedenen europäischen Parteien, zwischen Ost und West, zwischen reichen und armen, großen und kleinen Ländern. Und, neu im Programm: Zum ersten Mal auch zwischen Männern und Frauen.

Das heißt im Klartext: Wenn Manfred Weber nicht EU-Kommissionspräsident wird, könnte er dafür zum Beispiel Parlamentspräsident werden. Kommt allerdings Kanzlerin Merkel auf den Chefsessel des Europäischen Rats, wie es manche wollen, dann könnte Weber ganz leer ausgehen, weil dann ja schon ein wichtiger Posten an eine Deutsche gegangen ist.


Strategien
Klar, dass in diesem Spiel jeder seine Strategie hat. Zum Beispiel der französischen Präsident Emmanuel Macron. Der will das Spitz-System nicht – und Weber schon gar nicht. Er bildet mit anderen Ländern eine Art große, pro-europäische Koalition - und will so lieber jemanden mit "großer Erfahrung" auf den Thron setzen. Egal ob Spitzenkandidat oder nicht. Offensichtlich hat er da ein Faible für die liberale EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager oder den französischen Brexit-Beauftragten der EU, Michel Barnier.

Angela Merkel verteidigt Manfred Weber. Der hat für sie nicht nur den Vorteil, Spitzenkandidat zu sein, sondern auch noch Deutscher und aus ihrer Fraktion. Allerdings ist die Kanzlerin offensichtlich bereit, zu verhandeln. Immerhin sind noch andere deutsche Kandidaten im Spiel: Jens Weidmann von der Bundesbank, der als nächster Präsident der Europäischen Zentralbank gehandelt wird - und eben Merkel selber, als potentielle EU-Ratschefin.

Obwohl sie gar nicht offiziell kandidiert. Außerdem liegt für den Posten auch der Premierminister der Niederlande, Mark Rutte, gut im Rennen.

Als Kompromiss zwischen Weber und Macrons Kandidaten kommt er wieder ins Spiel: Frans Timmermans, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Die haben bei der Europawahl zwar nur den zweiten Platz gemacht. Aber die richtigen Allianzen könnten Timmermans zur Mehrheit verhelfen.

Ansonsten wäre der Niederländer aber auch ein guter Kandidat für den Posten des europäischen Außenvertreters, tritt da allerdings gegen den spanischen Sozialisten Josep Borrell an.

Für den Posten des Parlamentspräsidenten sind wiederum Manfred Weber und Guy Verhofstadt, der Vorsitzende der Allianz der Liberalen, im Gespräch.


Und die Grünen? Die stehen im Moment gar nicht auf den Shortlists. Aber Spitzenkandidatin Ska Keller hat die Stimmen ihrer Fraktion dem Kandidaten versprochen, der sich am besten für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Freiheitsrechte einsetzt.

 

Welche dieser vielen Tetris®-Optionen tatsächlich diskussionsreif sind und welche nur ein Brüsseler Gerücht, das muss sich noch zeigen. Der Zeitplan sieht so aus: Beim EU-Gipfel am 20. und 21. Juni sollen die Staats- und Regierungschefs vier Namen für vier Posten vorbringen. Die Zentralbank muss nämlich warten. Und im Juli soll das Europaparlament dann den neuen Kommissionschef bestätigen.

Allerdings: Bei der letzten Europawahl hat es ganze drei Gipfeltreffen gebraucht, bis die Entscheidung auf Jean-Claude Juncker als Kommissionschef fiel. Also ihr seht, da kommen ein paar spannende Wochen auf uns zu! Keine Sorge, Europe to Go hält euch natürlich auf dem Laufenden.

Journalist

  • Anne-Lyse Thomine

  • Anja Maiwald

Land

Frankreich

Jahr

2019

Dauer

7 Min.

Verfügbar

Vom 01/06/2019 bis 03/06/2030

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