Nicht nur Großveranstaltungen wie Konzerte und Sportmeisterschaften wurden aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt, auch das Freizeitprogramm für Millionen Kinder und Jugendliche, das sonntägliche Bolzen unter Kollegen, der Spieleabend mit Freunden und selbst das Bundesligaspiel im Fernsehen fallen aus. Ihren Durst nach Sport und Spaß löschen viele Fans jetzt hinter ihrem Bildschirm. Gehören digitale Spiele also zu den großen Gewinnern der Krise?
Anja Maiwald
Wer in Zeiten von Corona zuhause sitzt und sich langweilt, nach einem langen Tag im Homeoffice nach Abwechslung sucht oder einfach nur seine Freizeitaktivitäten vermisst, dem bieten Handy oder Computer eine gigantische Spielwiese: Videospiele, Sportsimulationen und Online-Glücksspiele erfreuen sich im aktuellen Kontext großer Beliebtheit. Laut Marktforschungsinstitut Nielsen haben Nutzer weltweit im März so viel für digitale Spiele ausgegeben, wie noch nie zuvor: 10 Milliarden Dollar in einem Monat.
Der amerikanische Telekommunikationskonzern Verizon berichtet, dass Onlinespiele in seinen Netzwerken derzeit gute 70 Prozent mehr Datenverkehr generieren, als noch vor der Krise. Und die italienische Telekom verzeichnete im März eine ebenfalls 70 Prozent höhere Internetnutzung, die sie laut des Nachrichtenportals Bloomberg auf Spiele wie „Fortnite“ und „Call of Duty“ zurückführte. Und tatsächlich: Das neue Spin-Off „Call of Duty: Warzone“ vom Videospiel-Riesen Activision Blizzard schaffte es im März nur zehn Tage nach Veröffentlichung bereits auf 30 Millionen Spieler – ein viel beachteter Höhenflug in der Branche.
Ähnlich gut läuft es seit Beginn der Krise für Steam, die größte Vertriebsplattform für Computerspiele: Schon im Februar hatte sie mit 19 Millionen gleichzeitig aktiven Nutzern einen neuen Rekord verzeichnet, zuletzt waren es jedoch über 23 Millionen. Und wer nicht selber zockt, der schaut vielleicht lieber zu – so, wie er sonst den Sportsender im Fernsehen verfolgt: Auf der Plattform Twitch, wo Spieler ihre digitalen Abenteuer live streamen, schnellte die durchschnittliche Zuschauerzahl seit Februar um satte 75 Prozent in die Höhe.

Sie hat sich ausgebreitet, wie ein Virus: Die Vertriebsplattform für Computerspiele Steam. Jeder Punkt steht für Downloadaktivität von mindestens einem Nutzer innerhalb von 24 Stunden.
Screenshot vom 28.04.2020, 13:30 Uhr
Kein Zuckerschlecken für kleine Unternehmen
Goldene Zeiten also für den Geschäftszweig? Die Einschätzung des Geschäftsführers des Verbands der deutschen Games-Branche (game) fällt nuancierter aus: „Die Games-Branche spielt im Moment eine große Rolle, weil Spiele einfach ganz stark genutzt werden“, bestätigt Felix Falk. „Wir sehen allerdings auch, dass der Umsatz nicht in gleichem Maße wächst, weil natürlich zum Teil Spiele, die schon gekauft waren, einfach mehr genutzt werden, und Spiele, die frei zur Verfügung stehen, längere Zeit gespielt werden, ohne dass In-Game-Käufe [Erwerb von virtuellen Leistungen oder Gütern innerhalb eines Spiels] eine Rolle spielen.“
Außerdem trifft die Krise, wie in jeder anderen Branche auch, nicht jeden gleich. Falk verweist darauf, dass Deutschland zum Beispiel im Vergleich zu den USA oder auch zu Frankreich ein relativ schwacher Entwicklerstandort ist: „Wenn man in Deutschland sieht, dass viele Entwickler klein- oder maximal mittelständisch geprägt sind, dann heißt das, dass sie auch keine besonders großen Finanzpuffer haben. Wenn sich Projekte verschieben – und das passiert im Moment – dann stoßen sie schnell an Probleme, die auch existentielle Bedeutung haben können.“ Laut einer aktuellen Umfrage seines Verbands erwarten knapp zwei Drittel der Unternehmen „kurzfristig negative oder sogar sehr negative Auswirkungen auf ihren Geschäftsbetrieb“.
Trotzdem sieht Felix Falk auf lange Sicht „eher einen positiven Effekt“ für die Gaming-Industrie: „Die Technologien der Games-Branche – also Virtual Reality, Augmented Reality, 3D-Simulation, Gamification – kann ich wunderbar auch in anderen Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft einsetzen und dazu wird jetzt die Coronakrise beitragen. Man sieht es ganz gut im Bereich eSport.“

Auf Twitch lassen sich bekannte und unbekannte Gamer per Streaming „über die Schulter“ blicken. (Screenshot vom 30.04.2020)
„Die Technologien der Games-Branche kann ich wunderbar auch in anderen Bereichen der Wirtschaft und der Gesellschaft einsetzen und dazu wird jetzt die Coronakrise beitragen“
Felix Falk,
Verband game
eSport füllt das Vakuum traditioneller Sportereignisse
Denn das sportwettkampfmäßige Spielen von Video- oder Computerspielen erfreut sich derzeit nicht nur hoher Zuschauerzahlen auf Streaming-Angeboten wie Twitch oder sogar im Fernsehen. Traditionelle Sportvereine und Veranstalter, die ihre Events aufgrund des Coronavirus absagen mussten, finden im eSport eine willkommene Ausweichmöglichkeit.
So startete zum Beispiel die Formel 1 virtuell in die Saison: Die F1 Esports Virtual Grand Prix Series soll die verschobenen Rennen im April und Mai ersetzen. Und weil der Ball nicht rollt, organisierte die Deutsche Fußball Liga (DFL) die „Bundesliga Home Challenge“, bei der 26 Clubs in der Fußballsimulation „FIFA 20“ gegeneinander antraten. Ähnlich machten es die Erstligisten in Spanien. Zur Unterhaltung der Fans bestehen und bestanden die Teams in allen Fällen nicht nur aus Konsolensportlern, sondern auch aus regulären Rennfahrern und Fußball-Profis. Noch mehr verschwimmen die Grenzen beim Radsport: Bei der virtuellen Tour de Suisse Ende April brachten die Sportler auf smarten Rennrädern in ihren Wohnzimmern tatsächlich körperliche Leistung.
Aber auch eSport-Profi-Ligen für Spiele wie „League of Legends“ oder „Counter-Strike: Global Offensive“ locken jetzt ein Publikum an, das sonst vielleicht eher die NBA oder die Fußball-Europameisterschaft geschaut hätte.
„Der eSports gewinnt im Moment auf jeden Fall an Aufmerksamkeit, die Zuschauerzahlen sind sehr hoch – auch, wenn es den Unternehmen nicht so gut geht, weil die Einnahmen aus den Veranstaltungen fehlen und weil die Sponsoring-Erlöse im Moment nicht fließen“, analysiert Felix Falk. Denn für gewöhnlich füllt auch der eSport Stadien und Messehallen mit Fans, die ihren Vorbildern beim Zocken zusehen. Die aktuellen Verluste seien schmerzhaft für die relativ junge Branche, in der sich erst seit Kurzem große Sponsoren engagieren, erklärt der Experte. Aber: „Ich glaube, das Potential für die Zukunft, das jetzt durch die zusätzliche Aufmerksamkeit in der Corona-Zeit deutlich wird, ist größer als die Verluste, die hoffentlich nicht von langer Dauer sind.“

Die letzte Etappe der Tour de Suisse vom 26.04.2020 auf Twitch. Die Radfahrer auf ihren vernetzten Rädern sind per Webcam zu sehen.
Eine Goldgrube für illegales Glücksspiel
Nicht nur der klassische Sport muss derzeit pausieren. Auch Sportwetten sind damit aus dem Freizeitprogramm gestrichen. Mit ihrem Verschwinden und der Schließung der Spielhallen dürfte in der Coronakrise das illegale Glücksspiel in Internet zunehmen. Davor warnt der Bundesverband der Deutschen Glücksspielunternehmen. Geschäftsführerin Julia Schneider beruft sich auf Werbeausgaben der Sportwetten- und Online-Glücksspielanbieter im ersten Quartal 2020: „Die Ausgaben für Fernsehwerbung haben sich im Vergleich zum Vorjahreszeitraum deutlich erhöht, nämlich mehr als verdoppelt.“ Dabei sind Online-Casinos und Online-Poker in Deutschland bis nächstes Jahr noch illegal – mit Ausnahme von Schleswig-Holstein, was zu einer juristischen Grauzone führt.
In Frankreich ist zumindest Online-Poker erlaubt – und erfreut sich derzeit großer Beliebtheit, beobachtet die französische Aufsicht für Glücksspiele im Netz (ARJEL). Während sie zu Beginn des Jahres noch 300.000 aktive Spieler pro Woche verzeichnete, waren es Mitte April bereits mehr als eine halbe Million. Die Ausgaben auf den entsprechenden Internetseiten haben sich demnach verdreifacht und betragen nunmehr 16 Millionen Euro pro Woche.
Eine Entwicklung, die die ARJEL dazu veranlasste, in einer Pressemitteilung auf „die Risiken des übermäßigen Glücksspiels“ hinzuweisen und die Anbieter aufzufordern, „die Anreize zum Spielen nicht mit Boni zu verstärken“. Und auch die französische Behörde befürchtet: „Das Gefühl der Langeweile, das durch die Ausgangsbeschränkungen verursacht wird, und die Aussetzung der meisten Sportwettkämpfe könnten einige Spieler dazu veranlassen, sich dem illegalen Angebot zuzuwenden.“

Mehr Aufmerksamkeit für den Denksport
Eine der wenigen Sportarten, bei denen nicht die physische, sondern die Geistesanwesenheit zählt, ist Schach: Auch, wenn das Vereinsleben umorganisiert und Veranstaltungen wie das Kandidatenturnier zur Weltmeisterschaft im März abgebrochen werden mussten, können die Partien selbst ohne Probleme digital ausgetragen werden. Online-Plattformen, auf denen Spieler aus aller Welt gegeneinander antreten können, verzeichnen seit Beginn der Krise Rekorde. Allein Marktführer Chess.com beherbergt Tag für Tag etwa 5 Millionen Partien.
Und auch der Profisport schlägt Nutzen aus der Pandemie: Schach-Weltmeister Magnus Carlsen lud zu einem brisanten Online-Turnier ein, das acht der stärksten Spieler der Welt derzeit ausfechten. Sämtliche Partien werden auf der Veranstalter-Website Chess24, auf Plattformen wie Twitch und sogar im norwegischen und russischen Fernsehen live übertragen und in neun Sprachen kommentiert. Ein globales Event also, das über Streaming und Medienberichte bereits mindestens 20 Millionen Menschen erreicht haben will, verrät uns Chess24 – historische Zahlen für den Randsport Schach.
„Vor der Krise hat ein erfolgreiches Schachturnier von Weltformat Aufmerksamkeit von circa 2 Millionen Menschen bekommen“, vergleicht der Geschäftsführer der Schachplattform, Sebastian Kuhnert, der auch von neuen Sponsoring-Angeboten berichtet. „Es wird kein Selbstläufer, aber Schach hat nun Rückenwind bekommen, der ein dauerhaftes Momentum entwickeln wird.“

Der Partien der Schach-Großmeister, die beim Magnus Carlsen Invitational online gegeneinander antreten, werden live übertragen und kommentiert. (Screenshot vom 30.04.2020)
„Schach hat nun Rückenwind bekommen, der ein dauerhaftes Momentum entwickeln wird“
Sebastian Kuhnert,
Chess24