Erste besorgniserregende interne Berichte
Indessen steht ganz Frankreich vor einer sanitären Krise ungeahnten Ausmaßes, einer Krankheit, deren Symptome und Auswirkungen noch unzureichend bekannt sind. Die Behörden haben schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Am 13. März veröffentlicht der Nationale Beirat für Medizinische Ethik auf Anfrage des Gesundheitsministeriums eine Stellungnahme zu den ethischen Aspekten des Krisenmanagements. Er antizipiert darin den Mangel an Ausrüstung, mit dem die Erstversorgungseinrichtungen konfrontiert sein werden, und eine der dramatischsten Folgen: die Notwendigkeit, den Zugang zu lebenserhaltender Versorgung in den Intensivstationen zu regulieren.
„Die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten mit komplexer Ausrüstung, bereits jetzt kaum ausreichend, wird sich rasch als zu gering erweisen, wenn die Zahl schwerer Krankheitsverläufe steigt. In einer Situation, in der die Mittel nicht zur Erhaltung der Gesundheit aller ausreichen, tritt der Wert der individuellen Gerechtigkeit, der eine angemessene Versorgung für jeden einzelnen fordert, in Konkurrenz mit dem der sozialen Gerechtigkeit, der eine Hierarchisierung von Prioritäten verlangt, unter kritischen Umständen und nach letztlich immer angreifbaren Kriterien. Der Zwang zu einer Patienten-Selektion stellt Ärzte und Behörden vor die schwerwiegende ethische Frage der Verteilungsgerechtigkeit.“
Am 20. März veröffentlicht die Regionale Gesundheitsbehörde Paris und Pariser Umland eine Empfehlung unter dem Titel: „Entscheidung über die Aufnahme von Patienten in Intensivstationen im Kontext der Covid-19-Epidemie“. Sie enthält konkrete Auswahlkriterien und versteht sich als Leitfaden und „konzeptueller Beistand“ für die Entscheidungsträger in den Krankenhäusern. „Es ist möglich“, heißt es darin unter anderem, „dass bereits stark geforderte Ärzte unter Zeitdruck schwierige Entscheidungen über den Zugang zur Intensivversorgung treffen müssen“.
Der Druck, unter dem sie stehen, geht übrigens nicht nur auf die Epidemie zurück, sondern auch auf die wiederholte Beschneidung der Mittel für die öffentlichen Krankenhäuser in den letzten zwanzig Jahren – eine Gesundheitspolitik, gegen die das Krankenhauspersonal seit März 2019 massiv protestiert und die durch die Covid-Krise verstärkt in den Fokus gerückt ist.
Die zitierte Empfehlung schreibt die „Grundprinzipien der Entscheidung über eine Aufnahme in die Intensivstation“ fest, für Covid-Patienten und Patienten mit anderen Krankheiten, die eine Intensivversorgung erfordern. Zu den Kriterien zählen nicht nur das Vorliegen weiterer Erkrankungen, ihr aktueller und früherer Gesamtzustand oder ihre Fähigkeit, eine bei schwerem Covid-Verlauf manchmal wochenlange Intensivbehandlung überhaupt zu ertragen, sondern auch ihre „klinische Anfälligkeit“ und ihr „neuro-kognitiver Zustand“. Als Grundlage für dessen Beurteilung wird die international verwendete „Klinische Frailty-Skala“ zitiert, die den Gesamtzustand eines Patienten bewertet und dabei nicht nur seinen Gesundheitszustand, sondern auch den Grad seiner Abhängigkeit von äußerer Hilfe im Alltag einbezieht (Toilette, An- und Auskleiden, Einkaufen…). Dabei werden neun Stufen unterschieden, von „in ausgezeichneter Form“ bis „Endstadium“. Bei den neuro-kognitiven Funktionen gibt es drei Kategorien: „normal“, „leicht eingeschränkt“ und „schwer eingeschränkt“, wobei bestimmte geistige Behinderungen automatisch in die letzte Kategorie fallen. Laut Le Monde hat eine von der Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe in etwa gleichzeitig eine ähnliche Empfehlung an die Generaldirektion Gesundheit im Gesundheitsministerium weitergegeben.
In den Krankenhäusern laufen zu diesem Zeitpunkt die Vorbereitungen für einen massiven Zustrom von Covid-Patienten. In Perpignan erhalten die Ärzte laut der News-Webseite Mediapart in diesem Zusammenhang am 18. März ein internes Dokument mit dem Titel „Intensivversorgung im Rahmen des Notplans Covid-19“. Darin werden die zu erwartenden Todesfälle in vier Kategorien eingeteilt: „vermeidbar“ und „unvermeidbar“, „annehmbar“ und „unannehmbar“. In anderen Regionen erhalten die Pflegeeinrichtungen direkte Anweisungen. Le Média social, eine Informations-Website im sozial-medizinischen Bereich, berichtet von einer Mail, die der Direktor des südfranzösischen Krankenhauses Marmande-Tonneins an die Ärzte richtete, die die medizinische Versorgung in den Pflegeeinrichtungen des Sektors koordinieren. Er fordert sie darin auf, das Krankenhaus nicht zu übersättigen, „schwer erkrankte, aber nicht intubierbare Covid-Patienten in kritischem Zustand“ in den Heimen zu versorgen und vorsorglich jene Patienten aufzulisten, die für eine stationäre Aufnahme in Frage kommen.
Am 30. März äußert das Collectif Handicaps, ein Zusammenschluss zahlreicher Trägervereine von Pflegeeinrichtungen, in einer Presseerklärung „schwerste Befürchtungen im Hinblick auf eine Selektion von Patienten aus Pflegeeinrichtungen bei – und manchmal bereits vor – ihrer Ankunft in der Notaufnahme.“ Fünf Tage später versucht der Gesundheitsminister in einer Videokonferenz die Gemüter zu beruhigen: „Eine Behinderung darf kein Grund sein, jemandem Versorgung vorzuenthalten, weder im normalen Krankenhausbetrieb, noch auf der Intensivstation“. Olivier Véran spricht von einer „Polemik, die nur daraus entstanden ist, dass innerhalb einer Regionalen Gesundheitsbehörde Dokumente diskutiert wurden, die (…) den Eindruck erwecken konnten, dass das Vorliegen einer körperlichen oder kognitiven Behinderung die Aufnahme von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen beeinträchtigen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das tatsächlich praktiziert wird“.