Menschen mit Behinderung – unsichtbare Covid-Opfer

Was die Pandemie über den Zustand der sozialmedizinischen Einrichtungen verrät

Menschen mit Behinderung - unsichtbare Covid-Opfer

Was die Pandemie über den Zustand der sozialmedizinischen Einrichtungen verrät

Tausende Erwachsene mit Behinderung haben den Covid-Lockdown in Pflegeeinrichtungen verbracht. Die Krankheit hat auch sie nicht verschont, die betroffenen Einrichtungen mussten sich neu organisieren, Quarantäne-Zonen einrichten und mit überlasteten Krankenhäusern manchmal erbittert um medizinische Versorgung für ihre teilweise schwer erkrankten Pensionäre kämpfen. Personen in Behindertenheimen waren in Punkto medizinische Betreuung bereits zuvor benachteiligt. Die Pandemie hat das Problem nur noch verschärft.

 

von Marianne Skorpis
Lesezeit: 20 Minuten

Beschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung

In den Einrichtungen für pflegebedürftige alte Menschen hat das Coronavirus besonders viele Opfer gefordert. Laut den Gesundheitsbehörden sind dort seit dem 1. März 13.879 Menschen an Covid-19 verstorben. Drei Viertel von ihnen starben vor Ort, in den Heimen, in denen sie lebten. Zwar weniger drastisch, dafür aber auch in den Medien und offiziellen Statistiken und Erklärungen weit weniger präsent, ist der Anstieg der Sterberate bei einer anderen Gruppe von Pflegebedürftigen: den Menschen mit Behinderung.

270.000 Erwachsene und 40.000 Kinder mit Behinderung leben in den verschiedenen französischen Pflegeeinrichtungen. 30.000 von ihnen kehrten während des Lockdowns in ihre Familien zurück, die meisten verbrachten diese von Ängsten, Verunsicherung, und manchmal Tragödien geprägte Zeit aber in den Heimen. Unser Artikel beschäftigt sich vordringlich mit den Erwachsenen, die Covid-anfälliger und damit stärker betroffen sind als die Kinder.

Die Ausnahmeperiode beginnt Mitte März mit dem Besuchsverbot für die Angehörigen, das für die Behinderteneinrichtungen ebenso gilt wie für die Altenheime. In dieser akuten Anfangsphase werden die sozial-medizinischen Betreuungsstrukturen gegenüber den Krankenhäusern als sekundär eingestuft und stehen vor einem schweren Problem: dem Mangel an Gesichtsmasken und anderer Schutzausrüstung.

Manche haben das Glück, verschont zu bleiben, andere können trotz aller Vorbeugungsmaßnahmen Ansteckungen mit dem Corona-Virus nicht verhindern. „Im Pflegeheim von Carrières-sur-Seine zeigten bereits am 19. März die ersten Personen Covid-Symptome“, erzählt Violette Guillet, Leiterin des Vereins Avenir Apei, der mehrere Pflegeeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung im Umland von Paris verwaltet. „Es hat uns sehr schnell an der nötigen Ausrüstung gefehlt. Ich kann mich nicht an das genaue Datum erinnern, aber es war ein Montag, und ich weiß noch, dass wir gerade mal 50 Masken übrig hatten, wo wir täglich 45 bis 60 Stück brauchen. Sie können sich also vorstellen… Das kann man nicht mehr als Schwierigkeit bezeichnen, das Wort ist mehr als unzureichend.“ In manchen Einrichtungen gerät die Lage sehr schnell außer Kontrolle, wie in den beiden staatlichen Pflegeinstituten in Westfrankreich, die Éric Jullian leitet: „Es war grausam, in einem Heim hatten wir 30 Covid-Fälle bei insgesamt 140 Bewohnern“.

Violette Guillet : „Während des Shutdowns wurden circa 30 Prozent unserer Heimbewohner vom Coronavirus betroffen"

Erste besorgniserregende interne Berichte

Indessen steht ganz Frankreich vor einer sanitären Krise ungeahnten Ausmaßes, einer Krankheit, deren Symptome und Auswirkungen noch unzureichend bekannt sind. Die Behörden haben schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Am 13. März veröffentlicht der Nationale Beirat für Medizinische Ethik auf Anfrage des Gesundheitsministeriums eine Stellungnahme zu den ethischen Aspekten des Krisenmanagements. Er antizipiert darin den Mangel an Ausrüstung, mit dem die Erstversorgungseinrichtungen konfrontiert sein werden, und eine der dramatischsten Folgen: die Notwendigkeit, den Zugang zu lebenserhaltender Versorgung in den Intensivstationen zu regulieren.

„Die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten mit komplexer Ausrüstung, bereits jetzt kaum ausreichend, wird sich rasch als zu gering erweisen, wenn die Zahl schwerer Krankheitsverläufe steigt. In einer Situation, in der die Mittel nicht zur Erhaltung der Gesundheit aller ausreichen, tritt der Wert der individuellen Gerechtigkeit, der eine angemessene Versorgung für jeden einzelnen fordert, in Konkurrenz mit dem der sozialen Gerechtigkeit, der eine Hierarchisierung von Prioritäten verlangt, unter kritischen Umständen und nach letztlich immer angreifbaren Kriterien. Der Zwang zu einer Patienten-Selektion stellt Ärzte und Behörden vor die schwerwiegende ethische Frage der Verteilungsgerechtigkeit.“

Am 20. März veröffentlicht die Regionale Gesundheitsbehörde Paris und Pariser Umland eine Empfehlung unter dem Titel: Entscheidung über die Aufnahme von Patienten in Intensivstationen im Kontext der Covid-19-Epidemie. Sie enthält konkrete Auswahlkriterien und versteht sich als Leitfaden und „konzeptueller Beistand“ für die Entscheidungsträger in den Krankenhäusern. „Es ist möglich“, heißt es darin unter anderem, „dass bereits stark geforderte Ärzte unter Zeitdruck schwierige Entscheidungen über den Zugang zur Intensivversorgung treffen müssen“.

Der Druck, unter dem sie stehen, geht übrigens nicht nur auf die Epidemie zurück, sondern auch auf die wiederholte Beschneidung der Mittel für die öffentlichen Krankenhäuser in den letzten zwanzig Jahren – eine Gesundheitspolitik, gegen die das Krankenhauspersonal seit März 2019 massiv protestiert und die durch die Covid-Krise verstärkt in den Fokus gerückt ist.

Die zitierte Empfehlung schreibt die „Grundprinzipien der Entscheidung über eine Aufnahme in die Intensivstation“ fest, für Covid-Patienten und Patienten mit anderen Krankheiten, die eine Intensivversorgung erfordern. Zu den Kriterien zählen nicht nur das Vorliegen weiterer Erkrankungen, ihr aktueller und früherer Gesamtzustand oder ihre Fähigkeit, eine bei schwerem Covid-Verlauf manchmal wochenlange Intensivbehandlung überhaupt zu ertragen, sondern auch ihre „klinische Anfälligkeit“ und ihr „neuro-kognitiver Zustand“. Als Grundlage für dessen Beurteilung wird die international verwendete „Klinische Frailty-Skala“ zitiert, die den Gesamtzustand eines Patienten bewertet und dabei nicht nur seinen Gesundheitszustand, sondern auch den Grad seiner Abhängigkeit von äußerer Hilfe im Alltag einbezieht (Toilette, An- und Auskleiden, Einkaufen…). Dabei werden neun Stufen unterschieden, von „in ausgezeichneter Form“ bis „Endstadium“. Bei den neuro-kognitiven Funktionen gibt es drei Kategorien: „normal“, „leicht eingeschränkt“ und „schwer eingeschränkt“, wobei bestimmte geistige Behinderungen automatisch in die letzte Kategorie fallen. Laut Le Monde hat eine von der Regierung eingesetzte Arbeitsgruppe in etwa gleichzeitig eine ähnliche Empfehlung an die Generaldirektion Gesundheit im Gesundheitsministerium weitergegeben.
In den Krankenhäusern laufen zu diesem Zeitpunkt die Vorbereitungen für einen massiven Zustrom von Covid-Patienten. In Perpignan erhalten die Ärzte laut der News-Webseite Mediapart in diesem Zusammenhang am 18. März ein internes Dokument mit dem Titel „Intensivversorgung im Rahmen des Notplans Covid-19“. Darin werden die zu erwartenden Todesfälle in vier Kategorien eingeteilt: „vermeidbar“ und „unvermeidbar“, „annehmbar“ und „unannehmbar“. In anderen Regionen erhalten die Pflegeeinrichtungen direkte Anweisungen. Le Média social, eine Informations-Website im sozial-medizinischen Bereich, berichtet von einer Mail, die der Direktor des südfranzösischen Krankenhauses Marmande-Tonneins an die Ärzte richtete, die die medizinische Versorgung in den Pflegeeinrichtungen des Sektors koordinieren. Er fordert sie darin auf, das Krankenhaus nicht zu übersättigen, „schwer erkrankte, aber nicht intubierbare Covid-Patienten in kritischem Zustand“ in den Heimen zu versorgen und vorsorglich jene Patienten aufzulisten, die für eine stationäre Aufnahme in Frage kommen.

Am 30. März äußert das Collectif Handicaps, ein Zusammenschluss zahlreicher Trägervereine von Pflegeeinrichtungen, in einer Presseerklärung „schwerste Befürchtungen im Hinblick auf eine Selektion von Patienten aus Pflegeeinrichtungen bei – und manchmal bereits vor – ihrer Ankunft in der Notaufnahme.“ Fünf Tage später versucht der Gesundheitsminister in einer Videokonferenz die Gemüter zu beruhigen: „Eine Behinderung darf kein Grund sein, jemandem Versorgung vorzuenthalten, weder im normalen Krankenhausbetrieb, noch auf der Intensivstation“. Olivier Véran spricht von einer „Polemik, die nur daraus entstanden ist, dass innerhalb einer Regionalen Gesundheitsbehörde Dokumente diskutiert wurden, die (…) den Eindruck erwecken konnten, dass das Vorliegen einer körperlichen oder kognitiven Behinderung die Aufnahme von Covid-19-Patienten auf Intensivstationen beeinträchtigen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das tatsächlich praktiziert wird“.

„Der Zwang zu einer Patienten-Selektion stellt Ärzte und Behörden vor die schwerwiegende ethische Frage der Verteilungsgerechtigkeit“

Der Nationale Beirat für Medizinische Ethik

„Eine Behinderung darf kein Grund sein, jemandem Versorgung vorzuenthalten, weder im normalen Krankenhausbetrieb, noch auf der Intensivstation“

Olivier Véran, Gesundheitsminister

Zahlreiche Berichte von Betroffenen

Die Presseerklärung von Collectif Handicaps reagierte jedoch weder auf das Dokument der Regionalen Gesundheitsbehörde Paris und Pariser Umland, noch auf interne Aktennotizen, sondern auf Warnungen vonseiten verschiedener Pflegeeinrichtungen. Dazu kommen mehrere in der Presse erschienene und von der ARTE-Info-Redaktion zusammengetragene Berichte von betroffenen Angehörigen. Sie belegen, dass Erwachsene mit Behinderung als „nicht prioritär“ für eine stationäre Aufnahme eingestuft oder gar rundweg abgelehnt wurden, und zwar nicht unbedingt wegen irgendwelcher Vor- oder Begleiterkrankungen, sondern häufig von vorneherein wegen ihrer Behinderung.

„Eine gewisse Anzahl von Rückmeldungen führt uns zur Feststellung, dass Menschen mit Behinderung doch ein wenig anders behandelt werden als andere“, erklärt Luc Gateau, der dem mitgliedsstärksten, landesweiten Verband von Trägervereinen für Pflegeeinrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung vorsitzt. „In den Krankenhäusern, die besonders unter Druck standen, mussten Ärzte bestimmte Initiativen ergreifen, die in unseren Augen nicht mit hohen ethischen Standards vereinbar sind. Die Rückmeldungen, die wir erhalten haben, haben uns gezwungen, sehr energisch auf Missstände aufmerksam zu machen, auf eine Tendenz, die durchaus als Selektion unter Patienten anzusehen ist. Das war für uns unannehmbar.“

Im elsässischen Departement Haut-Rhin, einem der Hotspots der Pandemie in Frankreich, erzählte Pierrick Buchon, der Leiter des Vereins Marie Pire, den Journalisten von Le Monde und Dernières Nouvelles d’Alsace, wie Alain und Philippe, zwei Bewohner des Pflegeheims von Riespach mit schwerer körperlicher und geistiger Behinderung, dort verstorben sind, nachdem der überlastete Notdienst ihre Überstellung ins Krankenhaus abgelehnt hatte. Pierrick Buchon kontaktierte daraufhin die ARS, die Gesundheitsbehörde der Region Grand Est, mit der die Pflegeeinrichtungen während der Krise häufig in Kontakt standen. „Sie haben es mir klar zu verstehen gegeben: Der Notdienst wird keine Menschen mit Behinderung übernehmen, Sie müssen sie im Haus behalten. Wir helfen Ihnen bei der Einrichtung einer palliativmedizinischen Begleitung und einer psychologischen Betreuung für das Personal.“ Auf Anfrage von Arte-Info bestreitet die ARS diese Behauptung und erklärt: „Die Vertreter der ARS vor Ort standen mit der Einrichtung vom Ausbruch der Krise an laufend in Kontakt, genau wie das Krankenhaus. Mehrere Bewohner von Heimen dieses Trägervereins wurden übrigens während der Covid-19-Epidemie stationär aufgenommen.“

In einem AFP-Videobericht erzählt die Leiterin einer sozial-medizinischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Paris, sichtlich und hörbar erschüttert, wie sie Bewohner ihres Heims „in äußerst prekären Umständen betreut“ und „eine ganze Nacht am Telefon verbracht hat, um den Notdienst zu erreichen, während die Bewohner in ihren Zimmern im Sterben lagen“. Die Trägerorganisation der Einrichtung wollte sich dazu gegenüber ARTE-Info nicht äußern.

Andere Erwachsene mit Behinderungen wurden zwar im Krankenhaus aufgenommen, nach einigen Stunden jedoch rücküberstellt. „Einen unserer Bewohner hat uns der Notdienst tatsächlich zwei Mal ins Heim zurückgebracht, obwohl er unter akuter respiratorischer Dekompensation litt“, erinnert sich Violette Guillet, verantwortlich für mehrere Einrichtungen im Pariser Umland, einem weiteren Covid-Hotspot. „Zwei Mal hatten sie ihn schon zurückgebracht, dann haben wir sie ein drittes Mal gerufen, weil sich sein Zustand noch stärker verschlechtert hat, und da haben sie ihn dann schließlich im Krankenhaus behalten. Leider ist er inzwischen verstorben.“

Violette Guillet merkt an, dass mehrere andere Bewohner der von ihr geleiteten Heime angemessen versorgt wurden, stellt sich aber trotzdem viele Fragen. „Im Gegensatz zu anderen Kollegen und Vereinen, denen die Versorgung von Patienten klar verweigert wurde, kann ich das nicht sagen, weil es bei uns nicht der Fall war. Wir fragen uns, ob der Zugang zur Versorgung für unsere Patienten nicht erschwert war, aber wir hatten keinen Fall von völliger Verweigerung. […] Doch es bleibt ein großes Fragezeichen in meinem Kopf zurück.“

Eric Jullian berichtet ebenfalls von Patienten mit Behinderung, die zwar stationär aufgenommen, aber schon nach zwei oder drei Stunden wieder entlassen wurden. „Und“, fügt er hinzu, „uns wurde vom Notdienst schon von Anfang an gesagt: Alte und behinderte Menschen sind nicht prioritär“.

Der Arzt Gaël Durel, Vorsitzender der Vereinigung Mcoor, die ärztliche Koordinatoren im sozial-medizinischen Bereich vertritt, beurteilt solche Situationen als „durchaus vergleichbar mit dem, was man für Bewohner von Altenheimen feststellt: Auch sie werden bei Überlastung der Notaufnahmen schnell als nicht prioritär eingestuft“. Er berichtet auch, dass manche Krankenhäuser Covid-Verdächtigen mit geistiger Behinderung selbst in weniger überlasteten Regionen die Aufnahme in spezifische Covid-Abteilungen verweigerten, „aus der Unkenntnis des Krankenhauspersonals heraus und der Angst vor der geistigen Behinderung, ‘Sie sind bei Ihnen bestimmt besser aufgehoben’“.

„Uns wurde vom Notdienst schon von Anfang an gesagt: Alte und behinderte Menschen sind nicht prioritär“

Éric Jullian, Leiter staatlicher Pflegeeinrichtungen

Mediziner und Professor für Medizinethik: „Solche Triage-Situationen könnten ein Einfallstor sein, dahingehend sich von diesem Gleichheitsgrundsatz zu verabschieden."

Eine Reportage von Kathrin Häfele für ARTE Journal

„Das wirft die Frage auf, ob Behinderte weniger Anspruch auf Rettung haben als andere.“

Vertreter der Behindertenrechte verfolgen die Entwicklung seit dem Ausbruch der Pandemie mit Sorge. Vier engagierte Initiativen veröffentlichten Mitte April eine gemeinsame Erklärung unter dem Titel: „Menschen mit Behinderung: dem Ableismus geopfert“. Sie analysieren darin die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung in der aktuellen Krisensituation folgendermaßen: „Die Gesellschaft erstellt eine Hierarchie der Körper: Der zur Norm erklärte gesunde Körper steht ganz oben, die anderen werden ausgegrenzt, je massiver, desto schwerer die Behinderung ist“. Behindertenaktivisten prangern seit langem den „Ableismus“ an – die Tendenz, den gesunden Körper zur Norm zu machen und alle Menschen, deren körperliche und geistige Fähigkeiten eingeschränkt sind, zu diskriminieren.

Elena Chamorro, Mitglied des Kollektivs Handicaps – Kampf für Gleichbehandlung und Emanzipation, meint in einem Gespräch auf der Blog-Plattform der Informationswebsite Mediapart: „Das Problem des Zugangs zu medizinischer Versorgung ist nicht neu, aber was aktuell geschieht, wirft die Frage auf, ob Behinderte weniger Anspruch auf Rettung haben als andere. Die politischen Verantwortlichen leugnen die Selektion ganz einfach, die Gesellschaft zeigt sich gleichgültig, akzeptiert sie teilweise sogar, und zwar umso leichter, als sich die Konkurrenz um den Zugang zur Versorgung verschärft“. Elena Chamorro kritisiert auch einen Bewusstseinsmangel, der Menschen mit Behinderung in der Krise unsichtbar macht: Sie werden übergangen in der Debatte um Pflegeeinrichtungen, die sich meist auf die Altenheime beschränkt. Beim Zugang zur medizinischer Versorgung, zu Masken und anderer Schutzausrüstung werden deren Bewohner als nicht prioritär eingestuft.

Aktivisten des CLHEE über Ableismus

Eine Reportage von Marianne Skorpis für ARTE Journal

Fehlende medizinische Unterstützung

Der nur zögernd gestattete, manchmal schlichtweg verweigerte Zugang zu stationärer Behandlung wirft die Frage auf, wie die Abgewiesenen in der Folge versorgt wurden. Die meisten Pflegeeinrichtungen sind nicht auf die Behandlung von Patienten in kritischem Zustand ausgelegt.

„Unsere oft schwerkranken Bewohner mussten in dafür nicht ausgerüsteten Einrichtungen bleiben“, erinnert sich Luc Gateau. „Die Heime mussten sich anpassen, manchmal Quarantänebereiche für die Covid-Infizierten einrichten. Wir haben eine ganze Reihe von Schutz- und Versorgungsmaßnahmen eingeführt, manchmal mit Unterstützung von mobilen Einsatzteams der Krankenhäuser für eine stationsäquivalente Heimbehandlung in unseren Einrichtungen. Nur waren diese Dienste in bestimmten Regionen auch überlastet, und das war für uns dramatisch, weil unser eigenes Personal zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgebildet war“.

Der Zugang zur stationsäquivalenten Heimbehandlung wurde während der Covid-Epidemie insbesondere für Pflegeeinrichtungen vereinfacht. Doch die Zahl der Anträge auf Heimbehandlung ist, wie die darauf spezialisierte Website ActuSoins berichtet, während der Pandemie stark angestiegen, nicht nur in den Pflegeeinrichtungen, nicht nur für Covid-Infizierte, sondern auch für andere Kranke, die stationär nicht mehr behandelt werden konnten, weil viele Abteilungen für Corona-Patienten umgerüstet wurden. Dadurch waren die mobilen Teams teilweise völlig überlastet. „Diese Leute kommen ins Haus, wenn sie kommen können. Das ist nicht sehr oft der Fall, weder in den Altenheimen, noch in der Behindertenbetreuung. Deshalb werden sie manchmal von freiberuflichen Ärzten ersetzt und die tun, was sie wollen und wann sie wollen“, erklärt Eric Jullian und bedauert, dass sie etwa nachts häufig eben nicht wollen. „Die Heimbehandlung“, fasst er zusammen, „hat im Behindertensektor kaum funktioniert“.

Die allein gelassenen Einrichtungen haben getan, was sie konnten. Die größeren Trägervereine konnten Mittel und Kräfte bündeln, Krankenpfleger und Ärzte zwischen ihren verschiedenen Einrichtungen aufteilen. Viel hängt auch vom Typ der Einrichtungen ab: Manche sind von vorneherein auch auf medizinische Versorgung angelegt, andere nur auf die Betreuung im Alltag. Doch selbst die Heime mit medizinischer Betreuung stellen keine Vollzeitärzte ein, sondern nur ärztliche Koordinatoren in Teilzeit. Dabei wären, wie Stephan Meyer, der Vizepräsident des Koordinatoren-Verbands Mcoor unterstreicht, gerade die Ärzte entscheidend gewesen, nicht nur für die Behandlung der oben geschilderten Fälle, sondern schon für die Vorbeugung, die Vermeidung einer Einschleppung des Virus in die Heime. „Genau da sind die medizinischen Koordinatoren ganz wesentlich, weil sie die Ausbildung haben, die nötig ist, um die Schutzmaßnahmen optimal an die verschiedenen Heime und ihre jeweilige Patientenschaft anzupassen.“

In der Tat fällt es Menschen mit psychischer Behinderung schwerer, die vorbeugenden Hygienemaßnahmen umzusetzen. Andere sind von Hilfe im Alltag abhängig, deshalb kann der empfohlene Sicherheitsabstand nicht konsequent eingehalten werden. „Die allgemeinen Empfehlungen sind gut und notwendig, aber wir brauchen auch die Möglichkeit, sie patientennah so anzupassen, dass sie medizinisch und ethisch vertretbar sind“, unterstreicht Stephan Meyer.

„Genau da sind die medizinischen Koordinatoren ganz wesentlich, weil sie die Ausbildung haben, die nötig ist, um die Schutzmaßnahmen optimal an die verschiedenen Heime und ihre jeweilige Patientenschaft anzupassen.“

Stephan Meyer, der Vizepräsident des Koordinatoren-Verbands Mcoor

Das Problem ist nicht neu

Claude Thiaudière ist Soziologe, lehrt und forscht an der nordfranzösischen Universität Jules Verne in Amiens. Seiner Ansicht nach hat die sanitäre Krise nur Probleme verschärft und an den Tag gebracht, die schon seit langem existieren. „Die meisten Pflegeeinrichtungen betreuen die Menschen mit Behinderung zwar sozial, versorgen sie aber nicht medizinisch. Sie kümmern sich um Kinder und Erwachsene, die vor allem sozial am Rand stehen, die Behinderung ist etwas, was noch dazukommt. Die Betreuer sind meistens Sozialarbeiter, also relativ weit entfernt von der Medizin. Und ich glaube, diese Distanz hat sich in den zwei Lockdown-Monaten schmerzlich bemerkbar gemacht.“

Gerade dass Menschen mit Behinderung oft in spezialisierten Institutionen leben, führt paradoxerweise dazu, dass sie vom medizinischen System abgesondert bleiben. Sätze von Krankenhausärzten wie der schon zitierte „Behalten Sie sie lieber, sie sind bei Ihnen besser aufgehoben“, illustrieren diese Trennung perfekt.

Manche Bewohner von Pflegeheimen, besonders jene mit Mehrfachbehinderung, brauchen laufend medizinische Betreuung. Sie leiden unter dem Ärztemangel im Pflegesektor. Anne Amrani, Ärztin in einem südfranzösischen Pflegeheim, kennt das Problem aus eigener Erfahrung: „Die Einrichtung, in der ich arbeite, betreut Menschen mit schwerer Behinderung und hat sich dafür entschieden, die direkte medizinische Betreuung durch eine zeitlich ausreichend dotierte Stelle zu gewährleisten. Damit ist aber die Rolle des Koordinators noch nicht abgedeckt. Und es ist wichtig, dass auch jemand da ist, der den Bedarf der Bewohner abklärt und die Betreuung zwischen Fachärzten, Krankenpflegern und Sozialtherapeuten koordiniert“.

Das Problem betrifft nicht nur die spezialisierte Betreuung bestimmter Formen von Behinderung, es ist generell: „Es gibt kaum echte Verbindungen zwischen der Behindertenpflege, dem sogenannten sozial-medizinischen Sektor und dem rein medizinischen Versorgungssystem. Das ist ein Klassiker. Manche Einrichtungen haben zwar einen guten Draht zu niedergelassenen Ärzten, aber nicht zu den Krankenhäusern“.

Luc Gateau bestätigt die Ausführungen von Claude Thiaudière: „Was uns fehlt, ist eine konsequente Politik der Verbesserung des Zugangs zu medizinischer Versorgung für Menschen mit Behinderung. Wir werden systematisch darauf verwiesen, dass dieser Zugang gesetzlich garantiert ist. Aber es geht ja nicht nur um den realen physischen Zugang zu einer Notaufnahme, es geht um Zugänglichkeit im erweiterten Sinn und da liegt vieles im Argen“. Als Beispiel nennt der Vorsitzende des größten französischen Vereins für die Rechte von Menschen mit Behinderung das weitgehende Fehlen von Dokumenten in Leichter Sprache, einer vereinfachten Form der Sprache, die auch für Menschen mit geistiger Behinderung verständlich ist.

Violette Guillet sieht einen Teil des Problems bei der medizinischen Ausbildung: „Zu den großen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Krankenhaus gehört die Unkenntnis in Sachen Behinderung. Wir wissen ja alle, dass in der Ausbildung der Ärzte, Krankenpfleger oder Hebammen nicht viel Platz für dieses Thema ist“. Deshalb begrüßt sie den vor zwei Jahren für Studenten im Gesundheitsbereich eingeführten Sanitären Zivildienst. Er beteiligt die Studenten an Vorbeugungsprojekten für prekäre Gruppen am Rand des Gesundheitssystems und bringt sie so in Kontakt mit einer Welt, die sie anders vielleicht nie kennengelernt hätten: Altenheime, Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung, Schulen in Problemvierteln. „Wir müssen als Vertreter der Menschen mit Behinderung mit den Studenten Hand in Hand für mehr Austausch und Verständnis arbeiten, um den Menschen, die wir betreuen, den Zugang zur Versorgung im Krankenhaus zu erleichtern.“

Zweifel an den Statistiken

Neben Benachteiligungen beim Zugang zu medizinischer Versorgung werfen auch die Statistiken in Bezug auf Menschen mit Behinderung Fragen auf. Die Nationale Agentur für Öffentliche Gesundheit veröffentlicht jede Woche die offizielle Bilanz der Corona-Epidemie. Die Daten, die dann von den Gesundheitsbehörden übernommen werden, stammen aus verschiedenen Beobachtungsnetzwerken, die mit der Agentur zusammenarbeiten: So meldet etwa der landesweite Notdienst der niedergelassenen Ärzte SOS Médecin die Zahl von Einsätzen im Zusammenhang mit Covid-Verdachtsfällen, die Krankenhäuser unter anderem die Zahl der Covid-Todesopfer und der Covid-Patienten in Intensivbehandlung, die Pflegeeinrichtungen die Zahl der infizierten und verstorbenen Heimbewohner. Bei den letztgenannten Zahlen sind merkwürdige Schwankungen zu beobachten. Wie genau also wurden sie erstellt und verarbeitet?

Ein neues Meldesystem

Ende März führte die Agentur für Öffentliche Gesundheit ein neues Meldesystem mit dem Namen Voozanoo ein. Die Gründe für diese Neuerung sind laut Benutzeranleitung: „Ab Mitte März traten in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen mehrere Covid-19-Cluster auf, die jedoch vom Meldesystem des Gesundheitsministeriums für geballt auftretende akute Atemweginfektionen nicht erfasst worden sind. Das bestehende System ist nicht auf eine zuverlässige Meldung von Covid-19-Fällen ausgelegt, sondern auf die generelle, laufende Beobachtung geballt auftretender Infektionen. Deshalb hat die Agentur für Öffentliche Gesundheit im Auftrag des Ministeriums ein neues System zur Meldung und laufenden Beobachtung von Covid-19-Fällen in den Pflegeeinrichtungen entwickelt“.

Es handelt sich dabei um eine Internet-Plattform, auf der soziale und sozial-medizinische Institutionen Covid-Verdachtsfälle unter Bewohnern und Personal melden können. Sie sind eingeladen, dort die Erstmeldung durchzuführen, gefolgt von täglichen Verlaufsschilderungen und einem Abschlussbericht nach Abklingen der Infektion. Neben den Personen, die Covid-verdächtige Symptome aufweisen oder laut durchgeführtem Test nachweislich infiziert sind, können auch die Todesfälle durch Covid-19 gemeldet werden, mit der Zusatzinformation, ob sie vor Ort oder im Krankenhaus eingetreten sind.

Dabei sind auch retroaktive Meldungen bis zurück zum 1. März möglich. Zudem können Angaben zu fehlender Ausrüstung oder Personalmangel gemacht werden – in den Pflegeeinrichtungen gab es in den ersten Wochen der Epidemie aus verschiedenen Gründen viele Krankschreibungen. Für Paris und Umland verfügt die Regionale Gesundheitsbehörde über ihr eigenes Meldesystem, dessen Daten werden mit den über Voozanoo eingegangenen zusammengeführt.

Merkwürdige Schwankungen in den Zahlen

Die so gesammelten Daten fließen nicht nur in die täglichen Berichte der Regionalen Gesundheitsbehörden ein, sondern auch in die Wochenberichte der Nationalen Agentur für Öffentliche Gesundheit und der Hauptdirektion Gesundheit im Ministerium.

Die ersten Zahlen aus dem neuen Meldesystem erscheinen im Wochenbericht vom 2. April. Dort wird erstmals zwischen den Zahlen der Altenheime und denen der „anderen Pflegeeinrichtungen“ unterschieden. Ob die gemeldeten Todesfälle in den Einrichtungen oder im Krankenhaus eingetreten sind, ist dagegen nicht ersichtlich. Und die Zahlen aus Paris und Umgebung sind noch nicht eingeschlossen.

Zwei Wochen später, im Wochenbericht vom 16. April, wird feiner aufgeschlüsselt und zwischen Altenheimen, Pflegeheimen für Menschen mit Behinderung, Einrichtungen der Kinderfürsorge und anderen sozial-medizinischen Institutionen unterschieden. Wie auf der Plattform werden nun auch im Wochenbericht Verdachtsfälle und durch Tests bestätigte Infektionen getrennt. Demnach waren am 16. April 162 Bewohner von Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung in ihren Heimen an Covid-19 gestorben, 158 weitere in Krankenhäusern.

In der Woche darauf, am 23. April, ändert sich merkwürdigerweise die Gesamtzahl der in den Heimen Verstorbenen. Sie wird nun mit 76 angegeben, also um die Hälfte niedriger als in der Vorwoche. Am 30. April steigt sie wieder, auf 91. Am 7. Mai sind es insgesamt 72, am 14. Mai 73, am 21. Mai 71, am 28. Mai 76 Menschen mit Behinderung, die in ihren Pflegeeinrichtungen an Covid-19 verstorben sind. Im derzeit letzten Wochenbericht vom 4. Juni steht die Zahl von 75 Covid-Opfern in den Heimen selbst und 195 in den Krankenhäusern.

Gibt es eine Dunkelziffer?

Wie lassen sich die Schwankungen dieser Zahl erklären, an der sich unter anderem die oben erwähnte Hypothese einer Benachteiligung beim Zugang zu medizinischer Versorgung überprüfen ließe?

Gestehen wir es gleich ein: Wir konnten keine wirklich befriedigende Erklärung finden. Wir konnten nur einige Faktoren ausmachen und einige Berichte zusammentragen, die auf Schwächen des Meldesystems hinweisen.

Die Agentur für Öffentliche Gesundheit erklärt die Schwankungen durch die Eigenheiten des Meldesystems, insbesondere die täglichen Folgeerklärungen nach der Erstmeldung: „Durch die tägliche Datenübermittlung ist es, wie Kontrollen der Regionalen Gesundheitsbehörden und unserer eigenen Regionalbüros ergeben haben, zu sehr vielen Eingabefehlern gekommen. Wir haben daraufhin die Einrichtungen um Erklärungen und Korrekturen gebeten. In den meisten Fällen handelt es sich um Eingabefehler, manchmal auch um Meldungen, die sich nach Eingehen der Testergebnisse als falsch erwiesen haben“.

In ihrem Wochenbericht vom 4. Juni erwähnt die Agentur auch „laufende Korrekturen in der Datenbank“. Verantwortliche von Pflegeeinrichtungen bestätigen, dass in der akuten Anfangsphase der Epidemie, als die Suche nach Schutzmasken und die Einrichtung von Covid-Zonen in den Heimen vordringlich war, durchaus Fehler unterlaufen und manchmal auch Erklärungen vergessen worden sind.

Dank der Möglichkeit der retroaktiven Meldung füllt sich die Datenbank im Laufe der Wochen zunehmend. Der Wochenbericht vom 2. April gibt an, dass bis dahin Meldungen aus 781 sozialen und sozial-medizinischen Einrichtungen aller Art auf der Plattform eingegangen sind. Am 16. April ist von insgesamt 5.340 Meldungen die Rede, 1.415 davon kommen aus Pflegeheimen für Menschen mit Behinderung. Am 4. Juni liegt die Zahl der Meldungen bei 8.033, darunter 2.294 von Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung. Die meisten Infektionen sind zwischen dem 15. März und dem 4. April aufgetreten.

Die Meldungen sind allerdings nicht verpflichtend, jede Einrichtung entscheidet, ob sie auftretende Infektionen erklären will oder nicht. Wie die Agentur für Öffentliche Gesundheit selbst feststellt, garantiert also nichts, dass die Daten vollständig sind: „Wir sind nicht in der Lage, zu überprüfen, ob die Einrichtungen alle Fälle erklärt haben oder nicht“.

Kann es also sein, dass Pflegeheime nicht nur Eingabefehler gemacht haben, sondern Fälle ungemeldet ließen? Die Regionalen Gesundheitsbehörden haben alle Einrichtungen über die Existenz der neuen Plattform informiert. Éric Jullian hält Unterlassungen für denkbar, vor allem in Wohneinrichtungen ohne medizinische Betreuung, die nicht von der Regionalen Gesundheitsbehörde, sondern von den Departements finanziert werden: „Für Einrichtungen der Behindertenbetreuung, die nicht üblicherweise von der ARS finanziert werden, ist auch die Meldung an diese Instanz kein Reflex“. Die ARS Grand Est hält in mehreren Tagesberichten fest, dass ihre „Vertreter vor Ort und die Behindertenabteilungen der Departements derzeit bemüht sind, alle Einrichtungen dazu zu bringen, dass sie Covid-Fälle (neue, in dieser Woche auftretende und früher aufgetretene) auch melden“.

„Wir sind nicht in der Lage, zu überprüfen, ob die Einrichtungen alle Fälle erklärt haben oder nicht“

Agentur für Öffentliche Gesundheit

Zahlen, die erst bestätigt werden müssten

Die Behindertenabteilungen der Departement-Verwaltungen haben eine wichtige Rolle gespielt bei der Information über das neue Meldesystem und bei der Kontrolle der Daten, die aus den ihnen unterstehenden Einrichtungen kamen. Christian Fischer, Leiter der Behindertenabteilung des Departements Haut-Rhin, erklärt dazu: „Wir haben sehr eng mit der Agentur für Öffentliche Gesundheit zusammengearbeitet, ganz besonders in der Anlaufphase des neuen Systems. Wir kennen unsere Heime, haben engen Kontakt zu ihren Verwaltern und Zugang zu den Meldedaten aus unserem Sektor. Und wenn wir da, wie letzte Woche, plötzlich einen Anstieg feststellen, rufen wir an, um die Zahlen direkt mit den Einrichtungen zu überprüfen“.

Er hält diese Überprüfung vor Ort für ganz wesentlich. Denn für die regionalen und nationalen Gesundheitsbehörden, die enorme Datenmengen verarbeiten müssen, ist es viel schwieriger, eventuelle Irrtümer auszumachen. „Und es gibt nichts Schlimmeres, als eine Krise mit falschen Zahlen steuern zu müssen“, unterstreicht Christian Fischer. Doch es ist schwer festzustellen, ob diese lokale Kontrolle in allen Departements und Regionen durchgeführt wurde, selbst wenn die Agentur für Öffentliche Gesundheit betont: „Die Zahlen in unserer Datenbank sind Mitte April umfassend überprüft worden und werden es seither permanent“.

Wer hat gemeldet?

Eine weitere Frage, die sich stellt, lautet: Wer hat die Meldungen in den Pflegeeinrichtungen abgegeben? Die Antwort der Agentur: „Wir wissen das nicht genau, aber es ist anzunehmen, dass in jeder Einrichtung jemand speziell dafür bestimmt wurde“.

Das Verwendungsprotokoll der Plattform enthält keine Empfehlungen zu diesem Punkt, es wird nur darum gebeten, Identität und Kontaktdaten des jeweiligen Verantwortlichen für die Covid-Wache mitzuteilen. Für die Einrichtungen des Trägervereins Avenir Apei präzisiert deren Leiterin Violette Guillet: „Die Meldungen werden von den Verantwortlichen abgegeben, den Abteilungsleitern und Direktoren, auf der Basis der Informationen, die sie von den Ärzten erhalten“.

Besonders schwierig war die Erhebung sicherer Daten in der Anfangsphase der Epidemie, in der sich das Wissen über das Virus tagtäglich weiterentwickelte. Der Mangel an gesicherten Fakten hat die korrekte Einschätzung von Verdachtsfällen sehr erschwert. „Die einzigen, die eine Diagnose stellen können, sind die Ärzte, sie allein haben die dazu nötigen Kompetenzen“, stellt der Soziologe Claude Thiaudière fest. „Deswegen finde ich es etwas verwunderlich, dass man die Verwaltung der Einrichtungen, Direktoren oder Sozialarbeiter auffordert, Erklärungen dieser Art abzugeben.“ Für ihn ist es fraglich, dass Meldungen auf einer offiziellen Plattform, die direkt zur staatlichen Vorsorge beitragen, nicht zwingend von Ärzten ausgefüllt werden.

Geht man nach ihrem jüngsten Wochenbericht vom 4. Juni, hat sogar die Agentur für Öffentliche Gesundheit selbst Zweifel an ihren Zahlen: „Die Zahl der in Krankenhäusern stationär behandelten Pflegeheimbewohner und die Gesamtzahl von bestätigten und vermuteten Covid-Fällen unter Bewohnern und Personal in unserer Datenbank sind Gegenstand zahlreicher Korrekturen. Inzwischen sind praktisch alle neu gemeldeten Fälle getestete Patienten. Das macht die Gesamtzahl der Fälle zunehmend hinfällig, nur die Zahl der bestätigten Fälle ist noch aussagekräftig. Deshalb werden die Gesamtzahl der stationär in Krankenhäusern behandelten Fälle unter den Bewohnern, die Gesamtzahl der Fälle unter den Bewohnern und die Gesamtzahl der Fälle unter dem Personal in Zukunft nicht mehr in den Wochenbericht aufgenommen“.

„Die einzigen, die eine Diagnose stellen können, sind die Ärzte, sie allein haben die dazu nötigen Kompetenzen“

Claude Thiaudière, Soziologe

Ein letztes Fragezeichen

Die Agentur für Öffentliche Gesundheit nennt unter den Erklärungen für die schwankenden Zahlen auch „Meldungen, die sich nach Eingehen der Testergebnisse als falsch erwiesen haben“, präzisiert dabei aber nicht, ob es dabei um Menschen geht, die in den Pflegeeinrichtungen gestorben sind – jene Kategorie, die in den Statistiken den größten Schwankungen unterliegt. Bei den in den Heimen, respektive Krankenhäusern Verstorbenen fehlt die Unterscheidung zwischen den durch Tests bestätigten und den nur vermuteten Fällen. Frankreich verfügte in den ersten Wochen der Epidemie nicht über die nötige Anzahl von Tests, und die Bewohner der Pflegeeinrichtungen waren auch in dieser Hinsicht nicht prioritär. Eine nachträgliche Prüfung durch Tests post mortem wurde nicht vorgenommen und wird vom Hohen Rat für Öffentliche Gesundheit auch nicht empfohlen.

Die Statistiken lassen also – nicht nur, aber besonders im Hinblick auf die Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung – einiges im Unklaren. Das ist nicht unerheblich, denn sie spiegeln die besonderen Schwierigkeiten dieser Einrichtungen wider, gestatten eine verlässliche Bilanz des Verlaufs der Krise in diesem Bereich und halten auf offizielle Weise fest, was dort geschehen ist. Auch wenn die Bilanz in den Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderungen weniger katastrophal ausfällt als in denen für pflegebedürftige alte Menschen, Angehörige und Verteidiger von Behindertenrechten erwarten vollständige, überprüfte und gesicherte Zahlen. Auch das wäre eine Art zu zeigen, dass Leben und Tod von Menschen mit Behinderungen nicht weniger zählen als die aller anderen.

Redaktion: Marianne Skorpis

Graphik: Loïc Bertrand

Schnitt: Maxime Ozel