Menschen mit Behinderung: „Finanziell unabhängig sein – wie jeder andere auch“

Betroffene berichten

Menschen mit Behinderung: „Finanziell unabhängig sein - wie jeder andere auch“

Betroffene berichten

 

Eine Petition auf der Plattform des französischen Senats wirft Licht auf eine Situation, die Vereine und Aktivisten für Behindertenrechte schon lange anprangern: Die Tatsache, dass die Beihilfe für behinderte Erwachsene an das Einkommen des Lebenspartners gekoppelt ist. Wenn Beihilfeberechtigte eine Lebenspartnerschaft eingehen, büßen sie einen Teil oder manchmal sogar die Gesamtheit dieser Beihilfe ein. Viele werden dann von ihrem Partner finanziell abhängig. Manche zögern daher sogar, mit ihrem Partner zusammenzuziehen. ARTE Info hat sich mit mehreren Betroffenen unterhalten. Ihre Äußerungen machen nicht nur die Folgen dieser Regelung deutlich, sondern zeugen auch von den finanziellen Problemen zahlreicher Behinderter, die große Mühe haben, einen geeigneten Job zu finden.

 

Meriem, 40 Jahre alt: „Als wir heirateten, dachten wir nicht, dass uns das Nachteile bringen würde.“

Als Ehefrau erhält Myriem nur eine sehr geringe Beihilfe, obwohl das Gehalt ihres Mannes nur knapp über dem Mindestlohn liegt. „Wir gelten als reich“, meint sie. Eine schwierige Situation für das Ehepaar, das nicht in der Lage ist, Ersparnisse anzulegen und das sich jeden Restaurantbesuch dreimal überlegt.

Meriem ist arbeitslos, obwohl sie eine Ausbildung als Direktionsassistentin absolviert hat. Ihr erster Arbeitsvertrag war auf ein paar Monate befristet und wurden nicht verlängert, ihrer Meinung nach, weil sich Kollegen über ihre Behinderung beschwert haben. Ihr zweiter Job war für sie ungeeignet, weil sie an rheumatoider Arthritis leidet, die vor allem ihre Gelenke in Mitleidenschaft zieht. Nach Ansicht der Vierzigjährigen finden arbeitsuchende Behinderte nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt und sind in der Arbeitswelt häufig mit Diskriminationen konfrontiert. Laut einer jüngsten Studie des Sozialministeriums sind in Frankreich 15% der Behinderten unter 65 Jahren arbeitslos. Für Meriem ist die Beihilfe so etwas wie eine „Entschädigung“ für die Menschen, die wegen ihrer Behinderung keine Arbeit finden. Die Haltung der Gesellschaft gegenüber den Behinderten empfindet sie als diskriminierend: „Ich habe mich immer als minderwertig gefühlt, weil ich nicht arbeite, weil es mir nicht gelingt, einen Job zu finden.“

Dazu kommt, dass die gegenwärtige Beihilfe-Regelung das Leben des Paares einschneidend verändert hat. Er hat den Beruf gewechselt, damit sie ihre Beihilfe nicht einbüßt: „Als Soldat hat er sehr gut verdient, aber er hat umgesattelt und einen Job zum Mindestlohn angenommen, damit mir kein Nachteil entsteht.“ Rückblickend sagt sich Meriem, dass sie vielleicht nicht geheiratet hätte, wenn sie sich über die Folgen ihrer Entscheidung im Klaren gewesen wäre. So fragt sie sich: „Reicht es nicht, dass man in den alltäglichen Dingen voneinander abhängig ist? Warum sollte man dann noch von seinem Mann finanziell abhängig sein? Ich finde das erniedrigend. »

Welche finanzielle Hilfen gibt es für Menschen mit Behinderung?

Eine Beihilfe für behinderte Erwachsene erhalten ausschließlich Schwerbehinderte mit einem Erwerbsunfähigkeitsgrad von mindestens 80% sowie Menschen, die auf Grund ihrer Behinderung arbeitsunfähig sind. Diese Beihilfe wird seit 1975 von der Familienausgleichskasse (CAF) oder der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (MSA) ausgezahlt.

„Reicht es nicht, dass man in den alltäglichen Dingen voneinander abhängig ist? Warum sollte man dann noch von seinem Mann finanziell abhängig sein? Ich finde das erniedrigend.“

 

Frédéric, 48 Jahre alt: „Wir möchten eines Tages heiraten, aber nur, wenn sich das Gesetz ändert.“

Frédéric hat eine feste Beziehung, aber er weigert sich, mit seiner Partnerin zusammenzuziehen, weil er seine Beihilfe nicht verlieren will. „Das ist für mich keine Option“, meint er, „denn dann würde ich von meiner Partnerin finanziell völlig abhängig sein, und das will ich auf keinen Fall. Übrigens will auch sie nicht für uns beide aufkommen.“

Frédéric leidet unter multipler Sklerose und ist seit dem Alter von 28 Jahren gehandicapt. Auch er berichtet von Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche. Trotz einer Ausbildung als Empfangsmitarbeiter hat er bisher keinen Job gefunden. Frédéric kritisiert die Auffassung der Staatssekretärin für Behinderte Sophie Cluzel: Sie betrachtet die Beihilfe unter dem Gesichtspunkt der familiären Solidarität und befürwortet die Koppelung an das Einkommen des Lebenspartners. „Natürlich kann man sich gegenseitig helfen. Aber nicht so, dass man beim Zusammenleben Geld verliert statt seinen Alltag zu verbessern. […] Bei einer Behinderung fallen auch Kosten an, die nicht erstattet werden. Man gibt insgesamt viel mehr aus.“

„Wir Behinderte wollen finanziell unabhängig sein, wie jeder Gesunde auch.“

Aufmerksam verfolgt Frédéric die Debatten um die Petition, die bald auf der Tagesordnung des Senats stehen wird. Er will heiraten, falls ein neues Gesetz die Beihilfe vom Einkommen des Partners unabhängig macht. Die derzeitige Situation empfindet er als absurd: „Dass man nicht heiraten kann, weil man dann sein Einkommen verliert, ist eine schreiende Ungerechtigkeit.“ „Wir Behinderte wollen finanziell unabhängig sein“, fordert Frédéric, „wie jeder Gesunde auch. Als Paar zusammenzuleben, darf nicht heißen, dass man sich in eine totale Abhängigkeit begibt.“

 

Émilie, 31 Jahre alt: „Die Beihilfe sollte eine Sozialleistung sein.“



Émilie verlor ihre Beihilfe, als sie im Oktober 2019 mit ihrem Lebenspartner in eine gemeinsame Wohnung zog. Erst nach reiflicher Überlegung hatte sich das Paar zu diesem Schritt entschlossen: „Wir haben uns Zeit genommen, bevor wir zusammengezogen sind. Aber irgendwann sagten wir uns: Wenn wir Zukunftsprojekte machen wollen, geht es nicht anders. Denn wenn man getrennt lebt, ist es nicht möglich, eine gemeinsame Zukunft ins Auge zu fassen.“

Als freiberufliche Übersetzerin kann Émilie unter ihrer Behinderung angemessenen Bedingungen arbeiten. Sie leidet an Myopathie (Muskelschwäche). Diese Krankheit ist sehr ermüdend und erfordert regelmäßige Arztbesuche. Deshalb kann sie nicht Vollzeit arbeiten. Solange sie die Beihilfe erhielt, konnte sie es sich leisten, weniger zu verdienen. Heute ist sie in einer schwierigen Lage, weil sie mehr arbeiten muss, um ihren Einkommensverlust auszugleichen – und das hat auch gesundheitliche Folgen: „Ich spüre die Müdigkeit stärker als zuvor und habe viel mehr Schmerzen, etwa im Nacken, denn die Müdigkeit verstärkt den Schmerz“ klagt sie. Ihrer Meinung nach sollte die Beihilfe Teil der staatlichen Sozialleistungen sein, „genauso wie der Staat arme Familien unterstützt oder all diejenigen entschädigt, die wegen der derzeitigen Pandemie Einkommensverluste erleiden.“

Die Streichung der Beihilfe hat ganz konkrete Auswirkungen auf ihr Leben. Émilie und ihr Partner wünschen sich ein Kind, aber dazu müsste sie eine Zeit lang auf ihre Arbeit verzichten. Das ist ein echtes Problem, denn das Einkommen ihres Partners – monatlich 1600 Euro netto, knapp über der behördlich festgelegten Obergrenze – reicht für drei Personen kaum aus.

Redaktion: Marianne Skorpis

Grafik: Anne Mangin

Wie viel beträgt die finanzielle Hilfe für Menschen mit Behinderung?

Der Beihilfe-Höchstsatz beträgt 900 Euro, ein Betrag, der unter der Armutsschwelle liegt. Er wird je nach Einkommen des Haushalts berechnet. Die Obergrenze liegt bei jährlich 10 832,10 Euro für eine Einzelperson (im Durchschnitt monatlich 902 Euro) und bei  19 606,64 Euro für ein Paar (monatlich 1 633 Euro).

„Wenn man getrennt lebt, ist es nicht möglich, eine gemeinsame Zukunft ins Auge zu fassen.“