Es war im Dezember 2013. Im Flüchtlingslager von Kawergosk, dreißig Kilometer von Erbil entfernt, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Irak, war der Winter hart, die Luft feucht und der Boden schlammig. Mehr als zehntausend Menschen lebten in den vielen blauen und weißen Zelte, vier Monate zuvor war hier noch freies Feld. Mitte August 2013 waren diese syrischen Kurden vor der Barbarei des Islamischen Staats, der Al Qaida und des Assad-Regimes geflohen.
ARTE Reportage schickte damals vier französische und deutsche Künstler in das Lager Kawergosk: den Filmregisseur Pierre Schoeller, den Fotografen Reza, den Comiczeichner Reinhard Kleist und den Schriftsteller Laurent Gaudé. Das Foto eines Kindes aber steht uns, mehr noch als die Arbeiten der Künstler, lange vor Augen: Das Foto von Maya Rostam, damals 11 Jahre alt. Sie nahm teil an dem Workshop des Fotografen Reza: Er wollte den Kindern im Camp das Fotografieren beibringen.

© Maya Rostam / Reza Visual Academy
„Am zweiten Tag des Workshops ist Maya nicht da“, erzählt Reza. „Ich mache mir Sorgen und erkundige mich nach ihr. Niemand kennt ihr Zelt. Ich bleibe zuversichtlich. Der Kurs hat begonnen. Maya taucht auf, sie kommt zögernd näher, es ist ihr schrecklich unangenehm. Ich frage sie, warum sie zu spät kommt. Sie sagt kein Wort und blickt zu Boden. Die anderen Schüler fordern meine Aufmerksamkeit, doch ich wiederhole meine Frage: ‚Warum kommst du zu spät?‘ Wortlos hält sie mir ihre Kamera hin und zeigt mir dieses Foto. Kaum hörbar sagt sie: ‚Meine Schuhe waren gefroren. Ich musste warten, bis ich sie anziehen konnte.‘ Noch nie hat mich die Symbolik eines Fotos so sehr erschüttert.“
Anfang Oktober 2015, Maya hat das Lager von Kawergosk verlassen, über die Türkei nach Deutschland. Von den anfänglich 19 Teilnehmern des Foto-Workshops sind 10 geblieben – die anderen sind, so wie Maya, nach Deutschland gegangen oder nach Syrien zurückgekehrt. Diese zehn aber dokumentieren weiter unermüdlich ihren Alltag im Flüchtlingslager. Mitte Oktober 2015 trafen die ARTE Reporter sie gemeinsam mit Reza wieder: Ali, Amama, Amer, Amina, Deliar, Maryam, Nalin, Nawras, Solav und Solin. Wir wollten wissen, wie sie heute fotografieren.
Zum Ansehen und Wiederansehen
„Die verlorene Zeit“, ein Film von Pierre Schoeller
Die Texte und Gedichte von Laurent Gaudé sowie „Kawergosk – 5 Sterne“, eine Comicreportage von Reinhard Kleist.
„Auge um Auge“ mit Reza, dem Fotografen
Das Newsgame „Refugees“: Werden Sie ARTE-Reporter und berichten Sie über das Leben im Flüchtlingslager von Kawergosk
Wer sind die Reporter im Camp?
Ali Morad, 13 Jahre, aus Derik
Amer Abdulah, 15 Jahre, aus Girke Lege
Deliar Zeynal, 13 Jahre, aus Girke Lege
Nalin Bashar, 12 Jahre, aus Girke Lege
Solav Qasem, 13 Jahre, aus Derik
Amama Husien, 15 Jahre, aus Girke Lege
Amina Morad, 15 Jahre, aus Derik
Maryam Husien, 16 Jahre, aus Girke Lege
Nawras Hassan, 10 Jahre, aus Derik
Solin Qasem, 16 Jahre, aus Derik
Und auch…
- Mohammad Ali, 14, aus Girke Lege, ist nach Deutschland geflohen.
- Amar Abdulah, 13, aus Girke Lege, ist nach Deutschland geflohen.
- Najat Garsi, 12, aus Derik, ist ins Domiz-Lager (im irakischen Gouvernement Dahuk) gegangen.
- Zeraf Rasoul, 13, aus Damas, ist nach Deutschland geflohen.
- Maya Rostam, 13, aus Girke Lege, ist nach Deutschland geflohen.
- Mohammad Khalaf, 14, aus Girke Lege, hat den Fotografie-Workshop verlassen.
- Mohammad Husien, 17, aus Derik, ist nach Syrien zurückgegangen.
- Solav Rasoul, 12, aus Damas, ist nach Deutschland geflohen.
- Nora Morad, 13, aus Qamischli, ist nach Syrien zurückgegangen.
„Malen mit Licht“, „Verlorene Kindheit“, „Geliebtes Kurdistan“, „Die Familie ist alles“, „Sehnsucht nach Natur“ und „Leben – trotz alledem“: Nachfolgend finden Sie, aufgeteilt in sechs Themenbereiche, eine Auswahl der Arbeiten der jungen Reporter. Diese neuen Fotos von 2015 ergänzen die im Oktober 2014 auf der ARTE-Webseite veröffentlichten Aufnahmen.
Eine Ausstellung am Ufer der Seine
Vom 24. Juli bis 15. Oktober wurden die Fotos der Kinder von Kawergosk in Paris zusammen mit Rezas Portraits der Flüchtlinge ausgestellt. ARTE Journal berichtete.