Frauenmorde, ein unvermeidliches Verbrechen?

Warum Frauen in Europa nicht ausreichend geschützt werden können

Agathe Cherki, Robert Handrack

Frauenmorde, ein unvermeidliches Verbrechen?

Warum Frauen in Europa nicht ausreichend geschützt werden können

Agathe Cherki, Robert Handrack

In Frankreich hat das Parlement am 22. Juli 2020 einem Gesetz zugestimmt, welches die Opfer von häuslicher Gewalt besser schützen soll, zum Beispiel, indem in dringenden Fällen das Arztgeheimnis aufgehoben werden kann. Dieses Gesetz vervollständigt eine Reihe von Maßnahmen, welche in Frankreich im Kampf gegen die Diskriminierung der Frauen 2019 getroffen wurde.

In Deutschland wird im Schnitt alle zwei bis drei Tage eine Frau umgebracht. In den meisten Fällen handelt es sich um Beziehungstaten. Statistiken zeigen: Nirgendwo leben Frauen so gefährlich wie Zuhause. Obwohl die deutsche Presse regelmäßig über häusliche Gewalt berichtet, ist in Deutschland noch keine breite Debatte darüber entbrannt, ob der Staat genug für den Schutz der Frauen tut. Anders ist das in Frankreich, Italien und Großbritannien. Hier sind Frauen auf die Straße gegangen und haben die Politik zum Handeln gezwungen. Doch was bringen die neuen Maßnahmen? Sind die Frauen in den drei Ländern wirklich sicherer? ARTE Info hat sich umgesehen.

Erstes Kapitel

Das französische Dilemma

Eine Reihe an Frauenmorden hat Frankreich erschüttert. Frauen und Verbände fordern, dass der Staat seine Bürgerinnen besser schützt. Unter dem Druck der Öffentlichkeit hat die Regierung eine Kommission ins Leben gerufen, die ab dem 3. September über geeignete Maßnahmen berät. Doch die zahlreichen Gesetze, die bereits zum Schutz der Frauen verabschiedet worden sind, hatten nur mäßigen Erfolg. Warum ist das weibliche Geschlecht in Frankreich so gefährdet?

„Meine Damen, die Republik hat es nicht geschafft, Sie zu beschützen“, gesteht Staatspräsident Emmanuel Macron am 6. Juli in einem Facebook-Post. Macron reagiert damit auf eine Demonstration in Paris. 2.000 Menschen fordern dort schnelle Maßnahmen gegen die Frauenmorde. Am Tag danach erklärt Marlène Schiappa, Gleichstellungsbeauftragte der Regierung, dass eine Kommission Lösungen finden soll.

Doch was sollen diese Beratungen bringen? Das fragen sich zahlreiche Frauenverbände. Der neuen Kommission stehen sie kritisch gegenüber. „Wir dürfen keine Zeit verlieren“, erklärt die Vereinigung „Nous Toutes“ (sinngemäß: „Alle Frauen“). In den sozialen Netzwerken hat „Nous Toutes“ Präsident Macron mehrfach zum Handeln aufgefordert. „Diese Kommission ist nichts als ein weiteres Arbeitstreffen, von denen es schon so viele gab. Die Lösungen, die dort erarbeitet werden, sind schon längst bekannt und auch anerkannt.“

In der Theorie ist der Schutz stark

Tatsächlich hat sich in Frankreich seit dem Ende der 1970er Jahre viel getan. Politiker haben mehrere Gesetze verabschiedet, die die Gleichstellung und den Schutz der Frau garantieren sollen. Zwischen 2006 und 2014 hat der Staat eine ganze Reihe an Maßnahmen getroffen. 

Viele Gesetze im Kampf gegen häusliche Gewalt hat sich die französische Justiz von Spanien abgeschaut. So auch die umfassenden Schutzmaßnahmen, die ein Richter bei Verdacht auf Gewalt ohne Gerichtsverfahren anordnen kann. So dürfen die Gesetzeshüter einem gewaltbereiten Partner verbieten, Kontakt zum Opfer aufzunehmen. Die Richter können Frauen in Gefahr eine sichere Wohnung zuweisen und ihnen zusätzlich ein spezielles Handy geben. Darüber kann die Polizei sie orten und bei Gefahr eingreifen.

Frauenmorde: Frankreichs schlaffe Justiz

Ob Kontaktverbote oder der Entzug des Sorgerechts: Die Richter haben viele Möglichkeiten, um einen gewalttätigen Mann zu bestrafen. Das Problem: Die Justiz greift zu selten ein. Ganz anders ist die Situation in Spanien. Das Land gilt als Vorreiter beim Schutz vor häuslicher Gewalt.

In jüngster Zeit hat die Regierung den Schutz noch erweitert. Die Gleichheit zwischen Mann und Frau ist offiziell einer der Schwerpunkte von Macrons Präsidentschaft. Seit 2018 gibt es zudem eine Beratungshotline. Frauen, die Gewalt erleben, können sich dort melden und Unterstützung erhalten. Auch in Deutschland gibt es ein solches Hilfetelefon. Es ist kostenlos, rund um die Uhr erreichbar und wird in 18 Sprachen angeboten. In den vergangenen Jahren haben sich dort immer mehr Frauen gemeldet, 2018 gab es insgesamt 42.000 Anrufe.

Trotz all dieser Neuerungen sehen Experten in Frankreich noch Verbesserungsbedarf. „Frankreich liegt beim Schutz der Frauen im europäischen Mittelmaß“, erklärt Françoise Brié, Direktorin der Vereinigung Fédération Nationale Solidarité Femmes. Zwar ist die Istanbul-Konvention bereits seit 2013 Teil des französischen Rechts. Das Übereinkommen des Europarats gilt als einer der Meilensteine im Kampf für mehr Frauenrechte. Dennoch bemängelt Brié: „Die Gesetzgebung mag relativ komplett sein, jetzt müssen die Gesetze aber auch angewendet werden.“

Denn noch immer ist häusliche Gewalt gegen Frauen ein Problem. 2018 sind in Frankreich 121 Frauen von ihrem (Ex-)Partner umgebracht worden. In diesem Jahr registrierten Frauenverbände bislang bereits 94 Frauenmorde.  

Die Istanbul-Konvention

Die Istanbul-Konvention garantiert bedrohten Frauen Rechtsschutz, Betreuung und Hilfsangebote. Sie wurde 2011 vom Europarat auf den Weg gebracht und stellt verbindliche Rechtsnormen gegen häusliche Gewalt auf. Mittlerweile haben sie 45 Mitgliedsstaaten unterschrieben.

Zu den Eckpunkten der Konvention gehören unter anderem: Die Gleichstellung der Geschlechter in der Verfassung, die Einrichtung von Frauenhäusern als Zufluchtsort, eine umfassende psychologische Betreuung für die Opfer häuslicher Gewalt und die Strafverfolgung der Täter. Mehrere Länder haben das Abkommen noch nicht ratifiziert. Deswegen sind die Kernelemente der Istanbul-Konvention oft nur unzureichend umgesetzt.

„Frankreich liegt beim Schutz der Frauen im europäischen Mittelmaß. Die Gesetzgebung mag relativ komplett sein, jetzt müssen die Gesetze aber auch angewendet werden.“

Weitere Reformen nötig

Dass der Staat die Frauen nicht ausreichend schützt, liegt vor allem an den Strukturen. Der Kampf gegen Frauenmorde „sei eine politische Priorität, doch in der Verwaltung wird das Thema nicht unbedingt so hochgehangen“, bedauert Françoise Brié. Je nach Region stellt die örtliche Polizei nur wenig Geld zum Schutz der Frauen zur Verfügung. In vielen Gegenden fehlt es auch an Staatsanwälten und Richtern, die konsequent gegen die Täter vorgehen. Von Region zu Region gibt es teils erhebliche Unterschiede bei der Anzahl der eingereichten Klagen, der angeordneten Schutzmaßnahmen und der Zufluchtsorte.

Ein großes Problem sind die geringen finanziellen Mittel, die für den Schutz der Frauen bereitgestellt werden. Es fehlt an Spezialisten, die den sensiblen Umgang mit Gewaltopfern beherrschen. Auch finden bedrohte Frauen nicht immer Zuflucht. Die Infrastruktur müsste in dieser Hinsicht ausgebaut werden, fordern Experten.

Zudem reichen Reformen im Strafrecht allein nicht aus. Viele Frauen leiden noch nach der Trennung unter der Präsenz ihres gewalttätigen Mannes, wenn es beispielsweise um das Sorgerecht geht. Hat der Partner etwa das Recht, das gemeinsame Kind bei der Mutter zu besuchen, kann so ein Kontaktverbot umgangen werden und die physische und psychische Gewalt weitergehen. Die Kommission wird deshalb auch darüber beraten, ob das Familienrecht angepasst werden muss.

Und schließlich, erklärt Françoise Brié, fördert die allgemeine Ungleichheit zwischen Mann und Frau die Gewalt. „Wir leben in einer männerdominierten Gesellschaft. Die Gewalt gegen Frauen wird nur zurückgehen, wenn wir sexistische Vorurteile überwinden – sowohl im Privatleben als auch im Beruf. Zu oft heißt es, Frauen seien manipulativ und würden sich bloß als Opfer darstellen. Mit solch falschen Bildern wird die Gewalt gegen Frauen relativiert und unter den Tisch gekehrt.“ Für Brié fängt die Gewalt schon mit der Erziehung an. Sie fordert deshalb, bereits Kindern ein gleichberechtigtes Frauenbild zu vermitteln.

Zweites Kapitel

Kampf gegen die Kultur der Gewalt

Die Zahl der Frauenmorde nimmt in Italien seit Jahren nicht ab– aller Bemühungen der Politik zum Trotz. Jetzt soll es ein neues Gesetz richten. Doch Feministinnen sehen darin nur Stückwerk. Sie fordern eine Wende im Denken und neue Rollenbilder.

 

Lucia Annibali ist für viele Italienerinnen ein Symbol. Und das obwohl – oder gerade weil – es das Schicksal nicht gut mit der Abgeordneten gemeint hat. 2013 bewirft ihr Ex-Mann sie im Streit mit Säure und entstellt ihr Gesicht. Die damals 36-Jährige muss sich mehrmals operieren lassen. Trotz knapp 20 medizinischen Eingriffen sind die Narben bis heute sichtbar. Spätestens seit dieser Attacke ist Annibali eine der lautesten und bekanntesten Kämpferinnen für mehr Frauenrechte.

Kein Wunder also, dass die gelernte Rechtsanwältin auch das jüngste Gesetz gegen häusliche Gewalt nicht unkommentiert lässt. „Ineffizient“ sei der Text, so Annibali. „Die Ideen dahinter sind gut, doch die vorgeschlagenen Lösungen reichen nicht.“

Der rote Code

Das Gesetz, das Annibali geißelt, nennt sich „Codice Rosso“ (zu Deutsch: Roter Code). Das Parlament hat es im Sommer verabschiedet. Die wichtigste Neuerung: Vier Verbrechen, die zuvor weitgehend unbeachtet blieben, gelten jetzt offiziell als Straftaten. Dazu gehört:

Der Revenge Porn. Bei diesem Verbrechen veröffentlicht der Täter „explizit sexuelle“ Bilder des Opfers ohne dessen Einverständnis. Dieses Vergehen wird umso härter bestraft, wenn Täter und Opfer eine Beziehung führen oder geführt haben.

Angriffe, die das äußere Bild einer Person „deformieren“, etwa eine Säureattacke, wie sie Annibali erlitten hat.

Zwangshochzeiten, auch wenn sie im Ausland stattfinden.

Der Verstoß gegen ein gerichtlich verordnetes Kontaktverbot. Nähert sich ein Partner seiner Frau, obwohl ein Richter das verboten hat, drohen nun härtere Strafen.

Der Codice Rosso macht zudem die Haftstrafen länger und die Gerichtsverfahren schneller. Spätestens drei Tage nachdem Klage eingereicht wurde, muss es zu einer richterlichen Anhörung kommen.

Lucia Annibali

Die italienische Abgeordnete wurde 2013 von ihrem Ex-Partner mit Säure angegriffen. Foto: Andreas Solaro/AFP

Das Patriarchat als problematisches Erbe

Die Mehrheit der Parlamentarier ist von dem Gesetz überzeugt. Für die Sozialdemokraten geht es hingegen nicht weit genug. Zu ihnen gehört nicht nur Lucia Annibali, sondern auch Luigi Cucca. Der Senator hält das Gesetz für eine „Werbemaßnahme für die Regierung.“ Seine Kollegin Valeria Valene spricht von „einer verpassten Chance.“

Hauptkritikpunkt für Annibali und ihre Parteifreunde ist das Geld. Wie die Regierung die neuen Maßnahmen finanzieren möchte, sei unklar, heißt es in einer Erklärung. Denn das Gesetz sehe keine zusätzlichen Ausgaben vor. Die Sozialdemokraten verfolgen zudem einen anderen Ansatz. Für sie handelt es sich bei der Frauengewalt um ein „komplexes und vor allem kulturelles Problem.“ Die Wurzeln dafür lägen „in der Ungleichheit zwischen Mann und Frau und dem patriarchalischen Aufbau der Gesellschaft.“

Einige Feministinnen sehen im „Codice Rosso“ eine weitere Schwachstelle: Dass die Richter die Opfer nun zeitnah anhören müssen, halten sie für einen Fehler. „Das Gericht sollte diese Frauen nur vernehmen, wenn es auch wirklich notwendig ist und auch nur, wenn die Frauen dazu bereit sind“, erklärt Manuela Ulivi, Rechtsanwältin und Leiterin eines Frauenhauses in Mailand. „Wenn die Polizisten gut vorbereitet und ausgebildet sind, dann reicht die Klageschrift für die Ermittlungen vollkommen aus. Eine Anhörung zwingt die Frauen nur, schreckliche Geschichten zu wiederholen, die sie bereits in der Anklage niedergeschrieben haben.“

Premierminister Conte fordert Umdenken

Frauenmorde: Wer schützt die Waisen?

Mit jedem Femizid verliert ein Kind seine Mutter. Für die Psyche der Waisen kann das fatal sein. Trotzdem gibt es in kaum einem Land Gesetze, die eine weitreichende Betreuung der Kinder sicherstellen und sich mit ihrer Entwicklung befassen. Eine Ausnahme ist Italien.

Tatsächlich ist das Klima in Italien für Frauen vergleichsweise rau. Laut Weltwirtschaftsforum ist die Ungleichheit zwischen Mann und Frau in kaum einem europäischen Land so frappierend. Viele Italienerinnen schweigen und erdulden das Leid, dem sie ausgesetzt sind. Eine Studie zeigt, dass viele Opfer häuslicher Gewalt aus Scham auf eine Klage verzichten.

Für viele Frauenverbände hat der Staat die Gewalt zu lange gebilligt.  Bis 1981 akzeptierte die Justiz die „gekränkte Ehre“ noch als Mordmotiv. Wer seine Partnerin tötete, weil diese etwa untreu war, kam mit einer schwächeren Strafe davon. Und: Bis 1996 galt Vergewaltigung noch als Verbrechen gegen Moral und Sitte, nicht aber als Verbrechen gegen eine Person.

Doch seit einigen Jahren hat die Politik ihre Bemühungen für Frauenrechte intensiviert. 2013 hat Italien als eines der ersten Länder die Istanbul-Konvention des Europarats ratifiziert. Seitdem gilt der Frauenmord offiziell als Verbrechen (in Deutschland ist dieser Begriff noch immer kein Straftatbestand). Seit 2018 gibt es sogar ein Gesetz, das sich den Waisen von getöteten Frauen widmet und ihnen zahlreiche Rechte zusichert – eine Premiere in Europa.

Trotz all dieser Maßnahmen glaubt auch die Regierung, dass Italien noch eine Menge Aufholbedarf hat. Für Premierminister Giuseppe Conte ist der „Codice Rosso“ daher auch nur „ein wichtiger Schritt“ hin zur „kulturellen Revolution, die Italien so dringend braucht.“

Drittes Kapitel

Das Zweiklassengesetz

In ihren letzten Tagen als britische Premierministerin hat Theresa May ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Frauen besser vor Gewalt schützen soll. Dabei übergeht sie aber jene, die wohl am meisten ihre Unterstützung bräuchten: illegale Einwanderinnen.

Monatelang, eigentlich jahrelang, hatten Frauen in Großbritannien auf diesen Schritt gewartet. Wenige Tage vor ihrem Rücktritt im Juli, wollte Theresa May nun endlich Wort halten. Verbal hatte sich die britische Premierministerin schon lange dafür starkgemacht, bedrohte Frauen besser vor gewaltbereiten Männern zu schützen. Im März 2018 nannte sie den Kampf gegen häusliche Gewalt in einem Interview „ihre persönliche Priorität.“

Passiert war seit Mays Amtsantritt im Juli 2016 aber wenig. Nun, drei Jahre später, reichte May ihren Vorschlag im Parlament ein –  kurz bevor ihr Nachfolger Boris Johnson übernahm. Mehrere Beobachter glauben, May habe so sicher gehen wollen, dass ihr Vorschlag nicht in der Schublade verschwindet. Denn Johnson gilt in den Augen vieler Experten nicht unbedingt als Vorreiter beim Thema Frauenrechte

Das Gesetz soll Frauen auf mehreren Ebenen helfen. So soll häusliche Gewalt stärker ins Bewusstsein der Justiz rücken und als Straftatbestand festgeschrieben werden. Als häusliche Gewalt gilt dabei nicht nur physische Gewalt, sondern auch zwanghafte Kontrolle, manipulatives Verhalten und finanzielle Ausbeutung durch den Partner. Polizei und Staatsanwaltschaft sollen zudem mehr Befugnisse bekommen, um schneller eingreifen zu können, wenn der Verdacht auf häusliche Gewalt besteht.

Theresa May über häusliche Gewalt in Großbritannien

Im Gespräch mit ITV News erklärt Theresa May, dass ihr das Thema häusliche Gewalt bereits in der Opposition, also vor über zehn Jahren, am Herzen lag.

Abschiebung statt Schutz

Noch ist das Gesetz nicht verabschiedet, doch mehrere Frauenverbände zeigen sich zufrieden. Allein in England und Wales dokumentieren die britischen Behörden zwei Millionen Fälle häuslicher Gewalt im Jahr. 139 Frauen wurden im Jahr 2017 von (Ex-)Partnern getötet. Jede Art von Schutz ist daher willkommen. Theresa May hat sogar versprochen: „Wer auch immer Sie sind, wo immer Sie leben und welchem ​​Missbrauch Sie auch ausgesetzt sind, Sie werden Zugang zu den Diensten haben, die Sie benötigen, um sicher zu sein.“

Worte, die kaum für illegale Einwanderinnen gelten können. Sie sind von dem Schutz so gut wie ausgenommen. Zwar betont die Regierung in dem Gesetzestext, dass Migrantinnen besonders verwundbar sind. Und tatsächlich sind sie Studien zufolge häufiger Opfer häuslicher Gewalt. Zugleich klingt es im Gesetzestext aber so, als wolle die Regierung dieses Problem einfach loswerden: „In manchen Fällen ist es am besten, wenn das Opfer häuslicher Gewalt in sein Heimatland zurückkehrt und dort, falls möglich, von Familie und Freunden unterstützt wird.“

„In manchen Fällen ist es am besten, wenn das Opfer häuslicher Gewalt in sein Heimatland zurückkehrt und dort, falls möglich, von Familie und Freunden unterstützt wird.“

Frauenmord: Migrantinnen ohne Rechte

Obwohl weibliche Flüchtlinge besonders verwundbar sind, werden sie in den meisten europäischen Ländern kaum vor Gewalt geschützt. Im Gegenteil: Wenden sich die Frauen an die Polizei, droht ihnen wegen ihres illegalen Status oft die Abschiebung.

Auf den Staat können sich illegale Einwanderinnen also nicht verlassen. Im Gegenteil: Viele von ihnen müssen ihre Abschiebung fürchten, wenn sie sich hilfesuchend an die Polizei wenden. Denn die meisten Beamten geben die Daten der Frauen an das Innenministerium weiter. Die Opfer häuslicher Gewalt werden dann nicht beschützt, sondern von der Einwanderungsbehörde wie Verdächtige behandelt, kritisiert etwa Amnesty International.

Genau so erging es Isabella. Die Südamerikanerin wurde von ihrem britischen Mann geschlagen, wie sie der Zeitung „The Independent“ erzählt. Als sie aus seinem Haus floh, lehnten die Polizisten jede Unterstützung ab. Ohne ihren Mann fehlte ihr die Aufenthaltserlaubnis. Isabella bekam deshalb weder medizinische noch rechtliche Hilfe. Die Behörden ließen sie mittel- und obdachlos zurück. Und auch ihr Kind konnte sie ohne Sorgerecht nicht sehen. Andere Migrantinnen berichten, dass sie wegen ihres illegalen Status verhaftet wurden, als sie bei der Polizei häusliche Gewalt anzeigen wollten.

Kein Vertrauen in die Polizei

Das Schicksal dieser Frauen zeigt: Illegale Einwanderinnen sind oft hilflos. Nicht selten sprechen sie die Landessprache nicht, haben weder sozialen Anschluss noch Arbeit, und wissen im Ernstfall auch nicht, an wen sie sich wenden können. Viele sind von ihren Männern abhängig – finanziell, emotional und eben auch, was die Aufenthaltsgenehmigung betrifft. Das macht sie erpressbar. Denn nicht nur die Beamten können die Einwanderungsbehörde verständigen – auch der Partner. Zwei Drittel von ihnen trauen sich bei Gewalt nicht, die Polizei zu rufen. Und über die Hälfte der Frauen meint, dass der britische Staat eher dem Mann glaubt als ihnen.

Die Empörung über die Ungleichbehandlung ist groß. Mitte Juni demonstrierte „Step Up Migrant Women“, ein Bündnis von über 40 Organisationen, vor dem britischen Parlament.  Chiara Capraro, die bei Amnesty International für die Frauenrechte verantwortlich ist, fordert: „Es bleibt noch Zeit, um aus diesem Gesetz die bahnbrechende Reform zu machen, die daraus entstehen sollte. Die Regierung muss Änderungen vornehmen, um Gewaltopfer zu schützen – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.“

Auch Deutschland schützt Migrantinnen mangelhaft

Doch dass die neue Regierung das Gesetz noch einmal überarbeitet, ist zweifelhaft. Denn auch bisher hat die britische Politik wenig für den Schutz von Migrantinnen getan. Immer weniger Verbände können Frauen heute Zuflucht vor Gewalt gewähren, weil ihnen die finanziellen Mittel fehlen. Obwohl häusliche Gewalt in den vergangenen Jahren zugenommen hat, haben die Kommunen die Ausgaben für Zufluchtsorte um knapp 24 Prozent gesenkt. Betroffen sind davon vor allem Frauen, die in Migrantenvierteln leben. So mussten etwa im Londoner Viertel Newham fünf Zulaufstellen wegen Budgetkürzungen schließen. Zahlreiche weitere Projekte sind gefährdet und damit auch die Frauen. Bei lebensgefährlicher Gewalt sind sie allein.

Für Kritiker wie das Bündnis Step Up for Migrants ist klar: Die britische Regierung bricht ihre eigenen Verpflichtungen und das Völkerrecht, indem sie gefährdete Migrantinnen vernachlässigt. Denn Großbritannien hat, wie 44 weitere Staaten, die Istanbul-Konvention des Europarats ratifiziert. Darin werden verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen definiert, die die Staaten zu übernehmen haben. Artikel 59 garantiert dabei, dass alle Frauen und Mädchen gleich geschützt werden müssen – unabhängig von ihrem Einwanderungsstatus.

Unklar ist noch immer, wie Boris Johnson zu dem Gesetzvorschlag steht. Sollte er den lückenhaften Vorschlag jedoch unterstützen, dürfte er kaum Widerstand fürchten müssen, zumindest nicht aus dem Ausland. Denn der Großteil der europäischen Staaten setzt die Istanbul-Konvention selbst nur unzureichend um – so auch Deutschland. Die Bundesregierung hat sich bei der Ratifizierung geweigert, Artikel 59 anzuerkennen. Sie will geflüchteten Frauen keine Aufenthaltsgenehmigung verleihen, weil diese Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Und auch Deutschland hat nicht so viele Frauenhäuser, wie es die Istanbul-Konvention vorschreibt. Deshalb gibt es auch hierzulande Rufe nach einem stärkeren Schutz für Migrantinnen.