Einmal Brüssel-Beirut und zurück

Vier EU-Abgeordnete auf Dienstreise im Libanon

Einmal Brüssel-Beirut und zurück

Vier EU-Abgeordnete auf Dienstreise im Libanon

Den europäischen Institutionen haftet ein schlechtes Image an. Man wirft den Politikern vor, ihre Entscheidungen in einem abgeschotteten Mikrokosmos zu treffen, auf Grundlage von Berichten und Debatten, denen der Realitätsbezug fehlt, Entscheidungen für eine Welt zu treffen, die sie nicht kennen. Wir haben vier Abgeordnete begleitet, die Brüssel verlassen haben, um die Arbeit außerhalb ihrer Büros besser zu verstehen.

Ende Juni flogen Marisa Matias (GUE/NGL), Ramona Manescu (EVP), Kristina Winberg (EFD) und Andrea Cozzolino (PD) zu einer dreitägigen offiziellen Reise in den Libanon. Sie alle kommen aus verschiedenen politischen Richtungen, gehören aber gemeinsam der Delegation für die Beziehungen zu den Maschrik-Ländern an. Es war eine Reise an den Ort des Geschehens, die sie nach Beirut und vor die Tore Syriens geführt hat. Vom libanesischen Ministerpräsidenten bis zu den syrischen Flüchtlingen reihten sich Treffen und Besuche aneinander, sie wollten hören und sehen, was ihnen der Libanon von heute zu erzählen hat, aber auch, was er von Europa erwartet. Es ist ein kleines Land, das weltweit verhältnismäßig die größte Zahl an Flüchtlingen aufweist.

Marisa Matias, Ramona Manescu, Kristina Winberg und Andrea Cozzolino.

Die Reportage von ARTE Journal (Sonntag 26. Juli 2015).

Tag 1

Europäer sprechen mit Europäern

Aus Sicherheitsgründen kommen für Europäische Parlamentarier bei offiziellen Besuchen nur drei Hotels in Beirut in Frage. Dieses Mal sind sie im Phoenicia untergebracht, einem Fünf-Sterne-Hotel mit Blick zum Meer und zum Ort des Attentats auf den Ministerpräsidenten Rafik Hariri im Jahr 2005.

Die vier Mitglieder des Europäischen Parlaments kommen nicht gleichzeitig in Beirut an. Marisa Matias reist in Begleitung von Elisa Reschini, der Beraterin ihrer Fraktion (GUE/GNL), an. Als Erstes treffen sie Ramona Manescu. Die rumänische Abgeordnete ist schon seit ein paar Tagen hier. Sie ist Mitglied der Europäischen Volkspartei, immer perfekt gekleidet und politisch aus einer ganz anderen Ecke als Marisa Matias kommend. Die beiden Frauen bekleiden den Vorsitz respektive den stellvertretenden Vorsitz der Delegation.

Am selben Abend im zehnten Stock des Phoenicia, die beiden Abgeordneten und ihr Team treffen sich zum Abendessen mit der EU-Botschafterin Angelina Eichhorst und Anis Nacrour, dem Leiter der EU-Delegation in Syrien. Dieser musste Damaskus verlassen, nachdem die Europäische Union, wie auch die Mehrheit der Mitgliedsstaaten, ihre Botschaft in Syrien geschlossen hat. Eine Entscheidung, die er bedauert, denn eine „Politik des leeren Stuhls“ ist nicht in seinem Sinne. Er lebt in Beirut und geht mit Hilfe von Mittelsmännern, die vor allem aus den Reihen der NGOs stammen und ihn mit Informationen versorgen, seiner Arbeit aus der Ferne nach.

Der Diplomat, ein Kenner der Region und ihrer politischen und zivilen Akteure, beschreibt und analysiert die Situation im Libanon und in Syrien und darüber hinaus im Nahen Osten: die Gefahr des Zusammenbruchs des Libanon, der Machtzuwachs des „Islamischen Staates“, der Verlust des Einflusses der Europäischen Union in Syrien. Ausgewählte Auszüge des Abendessens.

Die Delegation

Marisa Matias, die Vorsitzende der Delegation ist eine sehr engagierte Person und diese Reise ist ganz nach ihrem Geschmack. Sie hat darauf bestanden so viele Gesprächspartner wie möglich zu treffen, sie glaubt, nur wenn sie und ihre Amtskollegen mit möglichst vielen Menschen sprechen, können sie sich eine Vorstellung von der Komplexität der Situation und von den aktuellen Herausforderungen des Libanons machen. Vor allem, da sie nicht alle über das gleiche Wissen und die gleiche Erfahrung mit dem Land verfügen. Marisa Matias ist seit 2009 das dritte Mal im Libanon, ihre stellvertretende Vorsitzende Ramona Manescu ist regelmäßig im Land (sie ist Vorsitzende der Gruppe Europäisch-Libanesische-Freundschaft im Parlament), wohingegen Kristina Winberg noch nie hier war.

Die Reise

Hauptgegenstand der Reise ist der syrische Konflikt und seine Folgen für den Libanon. Da die Europäische Union ihre diplomatischen Beziehungen zum syrischen Regime abgebrochen hat, ist es den EU-Abgeordneten verboten, sich dorthin zu begeben. Marisa Matias, die „gern die Komfortzone verlässt“, ist jedoch der Ansicht, dass es wichtig ist, dorthin zu fahren, wenn auch nur, um den Dialog mit den syrischen Parlamentariern aufrechtzuerhalten. Doch auf höherer Ebene des Europäischen Parlaments hat man sie über die Gesetze der Diplomatie belehrt.

Tag 2

Die Kunst der Neutralität

Auf der Terrasse des Phoenicia ist Marisa Matias besorgt über eine Nachricht vom Vortag. Die extreme Rechte hat gerade eine neue Allianz im Europäischen Parlament eingerichtet.
Ein Telefon, wenn nicht gar zwei, haben sie immer in der Hand: Die Abgeordneten und ihre Assistenten bleiben ständig in Kontakt mit Brüssel. Auch auf ihrer Reise in Beirut folgen sie den aktuellen Ereignissen, den Kommissionen, den Sitzungen der politischen Gruppen. Die Tage sind lang und die Nächte kurz.

Es ist 09.30 Uhr, die Delegation macht sich auf den Weg. Das diplomatische Protokoll schreibt vor, dass der Tag mit dem Treffen eines Regierungsmitgliedes beginnt. Sie haben daher einen Termin mit dem libanesischen Außenminister Gebran Bassil. Wir werden aufgefordert, während des Interviews draußen zu warten.

Der Minister war sehr gesprächig, die Uhr tickt, der Konvoi der Delegation braust davon zum nächsten Termin. Später treffen wir sie im libanesischen Parlament wieder, dort wo einst das historische Zentrum von Beirut war. Alle Straßen, die zum Versammlungsgebäude führen, sind blockiert. An jeder Straßenecke ist Militär stationiert. Wir sehen keinen Menschen, nur wenige Autos und leere Luxus-Boutiquen. Ein Hauch von Geisterstadt.

Die libanesischen Abgeordneten zeichnen ein sehr düsteres Bild der Situation im Libanon. Es fehlt ein Präsident, das Land funktioniert immer weniger. Die Kassen leeren sich. Die wachsende Zahl von Flüchtlingen droht das Land aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie wollen, dass die Europäer Druck auf die internationale Koalition ausüben, damit die ihre Taktik in Syrien ändert und sich nicht mehr auf Luftangriffe beschränkt, denn wenn der Konflikt anhält, könnte das Land irgendwann zusammenbrechen.

Szenenwechsel: Am Nachmittag reisen die Abgeordneten nach Haret Hreik. Das Viertel ist eine Hisbollah Hochburg. Wer hierher kommt braucht gute Nerven, die Straßen sind völlig verstopft. Wir müssen mehrere Kontrollpunkte passieren. Auf den Straßen wimmelt es von Menschen. Die Delegation wird am Sitz der Gottespartei von Mohammed Raad empfangen, er ist der einzige Abgeordnete, der die schiitische Bewegung im libanesischen Parlament vertritt. Die Hisbollah unterstützt Bachar al-Assad. Ihre Armee kämpft neben der syrischen Armee gegen jene, die Mohammed Raad „die Terroristen“ nennt.

Einen muslimischen Rosenkranz in den Händen erklärt auch dieser Abgeordnete, dass die internationale Koalition den falschen Weg geht, um Frieden nach Syrien zu bringen. „Die Lösung in Syrien ist keine militärische, sondern eine politische und muss mit dem Regime und der Opposition zusammen gefunden werden. Und wenn wir von dem Regime sprechen, meinen wir auch mit Baschar al-Assad.“

Gerüstet mit aller ihrer Neutralität, hat die europäische Delegation dann einen Termin mit einem heftigen Feind der Hisbollah und des syrischen Präsidenten. Fouad Siniora, ein weiterer libanesischer Abgeordneter, ehemaliger libanesischer Ministerpräsident und Leiter der Zukunftsbewegung.

Es gibt Unstimmigkeiten zwischen den Abgeordneten bezüglich des Treffens. Ramona Manescu hat die Anweisungen der Delegation, während des Aufenthaltes für niemanden Partei zu ergreifen, ein wenig missachtet. In einem Interview mit der libanesischen Presse, sagte sie, dass “der Block der Zukunft und die europäische Delegation in mehreren Punkten übereinstimmten“. Marisa Matias ermahnt ihre Stellvertreterin deshalb am nächsten Tag beim Frühstück.

Mit dem libanesischen Außenminister Gebran Bassil.

Mit Mohammed Raad, der einzige Abgeordnete, der die schiitische Bewegung Hisbollah im libanesischen Parlament vertritt.

Im Laufe des Abends haben die Europaabgeordneten auch Matthias Schmale getroffen, den Libanon-Beauftragten für die UNRWA, das Hilfsprogramm der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge. Den letzten Zählungen zufolge befinden sich zusätzlich zu den 1,17 Millionen syrischen Flüchtlingen auch 450.000 palästinensische Flüchtlinge im Libanon. 53 % von ihnen leben in einem der zwölf offiziellen Lager. Nun kommen weitere 50.000 palästinensische Flüchtlinge, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, hinzu.

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Die wortwörtliche Aufzeichnung des Treffens:

„Durch die Herabsetzung unserer Mittel sind mit einer täglichen Herausforderung konfrontiert: wir müssen uns entscheiden, ob wir die Priorität im Libanon oder in Syrien setzen.“

 

„Einige ziehen es in Erwägung, Sicherheitszonen in Syrien einzurichten… wer die heutige Situation in Syrien kennt, weiß dass diese Idee verrückt ist.“

„Wir laufen Gefahr, im kommenden Oktober ohne Mittel dazustehen…. Wir hoffen, dass wir neue Geberländer finden können, wie die BRICS*-Staaten oder Länder aus dem Mittleren Orient.“

*Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika

Tag 3

Die Flüchtlinge aus Syrien, eine unhaltbare Situation

Heute ist der erste Tag des Ramadans. Die Delegation wird heute einen Ausflug machen, außerhalb der Ministerbüros und Besprechungsräume.

Aber zuerst, so wie es vorgeschrieben ist, der Besuch eines Ministers. Dieses Mal ist es der Minister für soziale Angelegenheiten. Rachid Derbas skizziert ausführlich die zahlreichen Probleme des Libanon. Ihm zufolge belaste der Krieg in Syrien die libanesische Wirtschaft mit 20 Milliarden Dollar. Die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge wird unkontrollierbar für den Libanon. Wie seine parlamentarischen Partner vom Vortag, schlägt er eine Selbstverwaltung sicherer Bereiche in Syrien vor, um so den Exodus der syrischen Bevölkerung zu vermeiden…

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Das ist die aktuelle Zahl im Libanon gemeldeter syrischer Flüchtlinge. Mit 232 Flüchtlingen pro 1000 Einwohner ist der Libanon, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, das Land, das weltweit den meisten Flüchtlingen Unterkunft gewährt.

Die Anzahl syrischer Flüchtlinge übersteigt vier Millionen

Quelle: UNHCR (9. Juli 2015).

Die Frauen auf der einen Seite, der Mann auf der anderen, die Abgeordneten sind eingeladen die Zelte zu betreten, um mit den Familien zu sprechen, die hier leben. Es bleibt nur wenig Zeit, um zu hören, was sie zu erzählen haben und schon muss die Delegation wieder weiter zu den offiziellen Gesprächen.

In Beirut warten noch drei Termine auf sie: der Nachrichtenchef der libanesischen Armee, der ehemalige libanesische Oberbefehlshaber und berühmte General Aoun (Führer der Freien Patriotischen Bewegung) und der libanesische Ministerpräsident. Bei diesen drei Treffen sind wir nicht mit im Raum.

Tag 4

Die verschlungenen Wege der Diplomatie

Heute Morgen: kein Minister. Der offizielle Teil der Libanon-Mission ist beendet. Ramona Manescu ist nach Bukarest abgeflogen. „Ich muss dort unbedingt an einer Parteiversammlung teilnehmen“, sagte sie uns am Vorabend. In Rumänien gehört die Europaabgeordnete der Nationalliberalen Partei an.  

Die Abgeordneten der Delegation reisen ab, wie sie gekommen sind – jeder nach seinem Terminplan. Auf der Terrasse des Hotels Phoenicia rauchen Kristina Winberg und Marisa Matias die erste Zigarette des Tages und unterhalten sich über das ungeheuer dichte Programm dieser Mission.

Die Schwedin gibt zu, etwas überfordert zu sein von dem, was sie in den letzten 48 Stunden hier gesehen und gehört hat. „Ich habe hier viele Informationen erhalten und kehre jetzt gerne nach Hause zurück, um sie innerlich zu verarbeiten und auszuwerten. Ich weiß nicht, wie ich das alles analysieren soll und welche Lösung hier die richtige wäre. Aber ich bin mit dieser Reise sehr zufrieden. Ich wollte die Dinge mit eigenen Augen sehen und habe meiner Fraktion ungeheuer viel zu berichten.“  

Marisa Matias ist weniger zufrieden. Sie wollte syrische Abgeordnete treffen, zu denen sie Kontakte unterhält und die sie am Rande des offiziellen Programms eingeladen hatte.  Aber sie konnten nicht kommen. „Die EU hat ihre Beziehungen zu den syrischen Behörden abgebrochen, aber wir Abgeordnete haben unsere Kontakte zum syrischen Parlament aufrechterhalten.“ Und mit einem Hauch von Ironie fügt sie hinzu: „Wenn man nicht mehr mit Syrien reden kann, müsste man vielleicht ins Auge fassen, dieses Land, um das sich eigentlich die Maschrek-Delegation kümmern sollte, von der Liste zu streichen.“

Als die drei Europaabgeordneten gerade zur EU-Botschaft aufbrechen wollen, kommt es zu einem unvorhergesehenen Treffen. Jemand aus Syrien wartet auf sie. Marisa Matias ist überrascht. Wer der Mann ist, erfahren wir nicht, und auch diesmal fordert man uns auf, uns zurückzuziehen und Geduld zu üben. Später erfahren wir, dass es sich um einen sehr engen Berater von Baschar-al-Assad handelte, aber der Inhalt des Gesprächs bleibt geheim.   

Die EU-Abgeordneten und ihre Berater verbringen den Tag am Sitz der europäischen Delegation, dem Hauptquartier der europäischen Diplomatie im Libanon – eine dreistündige Sitzung mit der Sprecherin des UN-Sondergesandten in Syrien, Staffan de Mistura, einer Vertreterin des Welternährungsprogramms in Syrien und den dort tätigen europäischen Botschaftern, die sich aber fast alle gezwungen sahen, Damaskus zu verlassen und nach Beirut zu gehen.  

Eva Filipi, die letzte Diplomatin in Damaskus. Die tschechische Botschafterin ist der letzte Vertreter Europas, der sich noch in Damaskus aufhält. Ihre Frage an Marisa Matias: „Was hindert sie daran, Syrien zu besuchen? Es ist wichtig, den Dialog weiterzuführen – und warum sollte man nicht auch politische Vertreter Syriens ins EU-Parlament einladen?“

Eriko Hibi, Vertreterin des Welternährungsprogramms in Syrien: „In den ländlichen Gebieten leben noch sehr viele Syrer, die ihr Land und ihre Häuser nicht verlassen haben und ihr Bestes tun, um zu überleben. Man sieht dort fast nur noch Frauen und alte Menschen.“

Kwalah Mattar, Sprecherin des UN-Sondergesandten in Syrien: „Die Syrier sind nicht alle für oder gegen die Regierung. Es gibt eine riesige schweigende Mehrheit, die sich Veränderung erhofft und erwartet, und sich über das Weiterbestehen Syriens sorgt.“

Jour 5

Zurück in die Flüchtlingscamps

Andrea Cozzolina und Kristina Winberg sind abgereist. Der offizielle Besuch ging gestern Abend zu Ende, aber Marisa Matias ist enttäuscht über die allzu kurze Fahrt an die syrische Grenze und will dorthin zurückkehren. Für ihre Sicherheit wird weiterhin gesorgt: Die Vorsitzende einer europäischen Delegation darf sich im Libanon nicht ohne Begleitschutz fortbewegen. Darüber wacht die EU-Botschaft. Um 6 Uhr 30 sind Dienstwagen und Fahrer zur Stelle. 

Auf dem Rückweg halten die Delegations-Vorsitzende und ihre Assistentin an, um ein letztes Gespräch zu führen. Genau zwanzig Minuten lang treffen sie Tracy Chamoun – die einzige Frau, die im Libanon eine politische Partei anführt.

Ihr sanftes Auftreten soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Aktivistin viel durchgemacht hat und in der Politik mit harten Bandagen kämpft. Marisa Matias freut sich: „Endlich haben wir hier auch eine Frau getroffen.“

 

Team

Reportage: Cecil Thuillier
Ton: Emmanuel Zouki
Schnitt: Jennifer Scharwatt
Zusätzliche Bilder: Donatien Huet, Côme Péguet

© ARTE G.E.I.E 2017