Der Winter naht

Spielfeld – ein Flüchtlingslager an der slowenisch-österreichischen Grenze

Eine Webreportage von Benjamin Wolf

Der Winter naht

Spielfeld – ein Flüchtlingslager an der slowenisch-österreichischen Grenze

Eine Webreportage von Benjamin Wolf

Jeden Tag überqueren zwischen 2.000 und 6.000 Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Norden die slowenisch-österreichische Grenze in Spielfeld. Versorgung und Weiterreise sind mittlerweile gut organisiert – an den nahenden Winter mag aber lieber niemand denken.

Als in den letzten Oktoberwochen bis zu 60.000 Schutzsuchende pro Woche über die südsteirische Grenze gekommen sind, zeigten sich die österreichischen Behörden überfordert. Fernsehbilder von Flüchtlingen, die an Bahngleisen entlang oder über Wiesen und Äcker wanderten, haben die Bevölkerung verunsichert und die österreichische Regierung in eine spitzfindige Debatte gestürzt, ob man an der Grenze nun „bauliche Maßnahmen“, eine „technische Sicherung“ oder bloß ein „Türl mit Seitenteilen“ errichten solle.

Drei Wochen später spricht man nun auch offiziell von einem Zaun, der aber – eine typisch österreichische Lösung – mit 3.7 km Länge nur ein sehr kurzer sein wird (ursprünglich waren bis zu 25 Kilometer geplant). Der Spielfelder Bürgermeister Reinhold Höflechner zeigt sich an der offiziellen Präsentation des Projekts zufrieden: „Ich finde die Lösung perfekt und absolut richtig, auch wenn sie etwas spät war.“ Die Länge reiche aus, denn es gehe allein darum „kleinräumige Umgehung zu verhindern.“ Auch laut Kanzleramtsminister Ostermayer geht es bei dem Zaun „nicht um eine Sperre, sondern um eine geordnete Einreise“.

Eine Einreise, die in den letzten Wochen dank massiven Bemühungen von Freiwilligen und Behörden auf beiden Seiten der Grenze sehr geordnet war. Es gibt beheizte Zelte, Decken, warmes Essen, medizinische Versorgung, sanitäre Anlagen, ein etabliertes System der Unterbringung sowie Züge und Busse für die An- und Weiterreise. Skepsis besteht darin, ob man all das langfristig aufrechterhalten wird können. An den nahenden Winter wollen die Helfer vor Ort lieber nicht denken.

Erstes Kapitel

Verzweiflung, Hoffnung, Bangen

Ein Flüchtlingslager kann ein Ort der Verzweiflung sein und ein Ort der Hoffnung. Verzweiflung über all das, was man verloren hat, was man zurücklassen musste. Und Hoffnung auf ein besseres Morgen, auf ein Leben fernab von Krieg, Elend und Hunger. Am Wertvollsten ist aber etwas ganz anderes: Informationen.

Spielfeld. Jedem Österreicher ist der Name des Grenzorts bekannt. Spielfeld, eine Ansammlung von Bauernhäusern und Weingärten, eingebettet in einer Wald- und Hügellandschaft, war in den 1990er-Jahren noch ein Symbol für die Zerbrechlichkeit des europäischen Friedens. Während des Jugoslawien-Krieges flogen österreichische Kampfjets an der südsteirischen Grenze entlang, um ein Übergreifen des Konflikts zu verhindern. Wenig später strömten 90.000 Flüchtlinge, vor allem aus Bosnien, in das Land. Ab 2007 wurde der Ort zum Symbol der europäischen Einigung und der Reisefreiheit. Heute mutet diese Reisefreiheit durchaus bizarr an, wenn man als EU-Bürger leicht mehrmals die Grenze auf der Autobahn überqueren kann, während wenige Meter entfernt tausende Flüchtlinge stunden- und tagelang darauf warten, zu Fuß weitergehen zu dürfen.

Šentilj / Spielfeld ist auch ein Ort des Wartens, der Unsicherheit und des Bangens. Nichts ist bei Flüchtlingen so heiß begehrt wie Informationen. Smartphones und mobile Akkus sind auf der Flucht zwar die wichtigsten Utensilien, aber Sim-Karten funktionieren oft nur in einem Land, wenn überhaupt. Ashraf, ein junger Student aus Damaskus fragt mich, wie er seine kroatische internationale Sim-Karte aktivieren kann. Ich hab leider ebenso wenig Ahnung wie er. Dann fragt er mich:  „When can we cross the border? My brother lives in Frankfurt, how can I get there?“ Bald, antworte ich, dass auf der anderen Seite Busse warten, die sie weiterbringen. „Is Austria similiar to Germany? Should we stay there or go on?“, fragt Ahmed aus Aleppo. Es ist nicht leicht, auf all diese Fragen Antworten zu geben, ohne zu viel zu versprechen. Syrer haben gute Chancen auf Asyl, sage ich immer wieder – es wird nur alles lange dauern, sie müssen Geduld haben.

Rachid aus Marokko sitzt im Rollstuhl und fragt mich, ob sie in „Germany“ sein Bein operieren werden. Youssef will nach Belgien zu seinen Verwandten. Mohammed und sein Vater Ahmed aus Syrien erzählen mir von Schwierigkeiten mit Pakistanis und Afghanen. „There is no war in their country“, sagen sie. Auch Flüchtlinge sehen die Solidarität der Europäer als knappes Gut an.

„Spielfeld – ab 2007 ein Symbol der europäischen Einigung.“

Herkunftsländer

Im ersten Halbjahr 2015 kamen noch bis zu 50 Prozent der Asylwerber in Deutschland und Österreich aus Balkanstaaten wie Albanien und dem Kosovo. Durch die Verschärfung des Asylrechts und Kooperation mit den Ländern Südosteuropas hat sich diese Zahl stark verringert.

Mittlerweile kommen viel mehr Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsländern Syrien und Irak (circa 50 respektive 7 Prozent der Asylwerber im Oktober in Deutschland) und Eritrea sowie eine steigende Zahl von Afghanen und Pakistanis, aber auch so manche Marokkaner und Palästinenser.

Während die drei erstgenannten aufgrund von Krieg und Verfolgung eine gute Chance auf Asyl in Europa haben, müssen Fliehende aus stabilen Staaten – ungeachtet ihrer wirtschaftlichen Situation – damit rechnen, wieder zurückgeschickt zu werden.

Mohammed und Ahmed, Flüchtlinge aus Syrien
Zweites Kapitel

Kaltes Wasser, warmes Essen und überteuerte Chips

Die Organisation und die Versorgung der Flüchtlingszentren in Slowenien und Österreich hat sich enorm verbessert. Das Leid der Flüchtlinge ruft verschiedene Menschen auf den Plan: engagierte Freiwillige aus hunderten Kilometern Entfernung, aber auch Geschäftsmenschen.

Die aktuelle Situation stellt Österreich vor eine Herausforderung, die vor allem dank großer Hilfsbereitschaft aus der Zivilbevölkerung und der Arbeit Tausender Freiwilliger zu bewältigen ist.

Das Lager auf beiden Seiten der Grenze ist inzwischen sehr professionell organisiert. Es gibt beheizte Zelte mit Feldbetten, zentrale Essensausgaben, medizinische Versorgung, freiwillige Helfer und (zu wenige) freiwillige Dolmetscher und Experten des UNHCR. Slowenien hat in Šentilj zudem eine mobile Wasserversorgung für die nötigste Hygiene und Dixi-Toiletten, die jeden Tag geleert werden, aufgestellt. Während der Zugang für die Presse auf der österreichischen Seite extrem restriktiv ist – nur der österreichische Rundfunk ORF darf in Ausnahmefällen hinein – sind die Behörden in Slowenien offen für Journalisten.

Die Flüchtlinge selbst dürfen hingegen weder allein hinein noch hinaus, Absperrungen sind allgegenwärtig. Gleichzeitig fallen aber auch die freundlichen Helfer auf, die bemüht sind, zu tun, was möglich ist. Einmal am Tag kommt ein Wagen mit Zigaretten, Hygieneartikeln und Snacks. Die Preise sind überteuert, aber die Flüchtlinge haben keine Alternative – eine slowenische Kollegin von Planet TV erklärt mir „Es ist nicht richtig, dass er die Waren überteuert verkauft, aber es ist legal, wenn er eine Rechnung ausstellt.“ Und das tut er.

Die Flüchtlinge bleiben meist zwischen fünf und zehn Stunden in Šentilj, wie mir R. Golob vom slowenischen Katastrophenschutz erklärt. Alle zwei bis drei Stunden schickt die Polizei ein Kontingent von 500 Flüchtlingen über die Grenze, die Zusammenarbeit mit den Österreichern funktioniert gut. In Spielfeld werden die Schutzsuchenden wieder versorgt und mit Bussen und Zügen weiter transportiert, nach Graz, Wien oder an die deutsche Grenze.

Tereza und Katka, zwei freiwillige Helferinnen aus der Tschechischen Republik.

Flüchtlinge in Österreich

Das österreichische Innenministerium rechnet dieses Jahr mit 95.000 Asylanträgen, das entspricht im Verhältnis zur Bevölkerung etwa den deutschen Schätzungen von 800.000 Flüchtlingen in Deutschland im Jahr 2015.  Österreich rechnet mit 40.000 positiven Bescheiden noch dieses Jahr. 

Die aktuelle Situation stellt das Land vor eine Herausforderung, die vor allem dank großer Hilfsbereitschaft aus der Zivilbevölkerung und der Arbeit Tausender Freiwilliger zu bewältigen ist. Nahrung, Kleidung, Decken, Deutsch-Kurse – für fast alle unmittelbaren Bedürfnisse der Flüchtlinge gibt es inzwischen neu entstandene Gruppen und Vereine, zusätzlich zu Caritas/Diakonie und dem Roten Kreuz.

Wer kurzfristig helfen will, kann sich bei der Initiative „Team Österreich“ des ORF (Österreichischer Rundfunk) melden und wird dann dort zugeteilt, wo Hilfe benötigt wird. Andere Aufgaben wie die Betreuung von Flüchtlingen am Hauptbahnhof wurden mittlerweile ganz von einem privaten Verein namens „Train of Hope“ übernommen.

Der Staat hält sich zurück, ist aber seit einigen Wochen auch zunehmend aktiv und erfolgreich, etwa bei der Quartiersuche oder der Zurverfügungstellung von Nahrungsmitteln, freien Urlaubstagen für Beamte, die mithelfen wollen oder durch finanzielle Unterstützung.

Drittes Kapitel

Der nahende Winter

Slowenische Ärzte versorgen Kranke und Verletzte mit dem Nötigsten. Grippe, Lungenentzündung oder Husten sind die häufigsten Beschwerden und noch relativ einfach zu behandeln, so wie auch Dehydratation bei Kindern. Es geht, man habe alles gut unter Kontrolle, sagt Notarzt Gregor. Allerdings wisse er nicht, ob diese Versorgung auf längere Dauer ausreiche. Und an den Winter will er gar nicht denken. Menschen könnten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in zwei bis drei Stunden im Freien erfrieren.

Manche Flüchtlinge haben auch Kriegsverletzungen oder ernstere Infektionen. Diesen kann momentan nur Linderung verschafft werden, keine Heilung. Nebenan baut die tschechische Armee am Sonntag ein mobiles Krankenhaus auf, voll ausgestattet mit medizinischen Geräten, Verbandsmaterial, Medikamenten und zukünftig besetzt mit einem Chirurgen, einem Infektologen und einem medizinischen Unterstützungsteam von fünf Krankenschwestern und fünf Technikern. Solidarität mit Flüchtlingen, auch aus dem oft gescholtenen Osteuropa.

Offizier-Arzt aus der Tschechischen Republik
Gregor, Arzt aus Slowenien

Der anbrechende Winter aber bereitet allen Helfern Kopfzerbrechen. Bis Mitte November war es noch verhältnismäßig warm in Mitteleuropa, zwischen zehn und 16 Grad tagsüber sind aushaltbar. Mit dem aktuellen Wintereinbruch und Temperaturen um die null Grad schaut die Lage aber bereits deutlich ernster aus.  „Die Zelte sind beheizt. Aber den Flüchtlingen, die draußen warten müssen, ist sicher kalt. Da wird man sich etwas überlegen müssen.„, erklärt mir Lisa, eine Freiwillige auf der österreichischen Seite.

Damit Flüchtlinge nicht herum irren, werden Transporte in Bussen und Zügen durch Slowenien, Österreich und Deutschland organisiert. Weiter südlich auf der Balkanroute und von Griechenland kommend,  können die Schutzsuchenden meist nur zu Fuß gehen – und frieren, wenn es kalt wird. Freiwillige, Ärzte, die Menschen vor Ort helfen, unterstützen und zeigen sich solidarisch mit den Flüchtlingen, trotz verbalen Brandstiftern und Anschlägen, die Angst einjagen sollen. Oder vielleicht auch gerade, um gegen diesen Hass ihre Menschlichkeit und Solidarität zu setzen.

Wenn Europa sich weiter menschlich und solidarisch zeigt, wenn es auch Staatschefs und Politiker tun, kann auch der nahende Winter bewältigt werden. Um es mit  den Worten der liberalen Vordenkers des Arabischen Frühlings Iyad El-Baghdadi zu sagen: „Zu sehen, wie sich die Europäer anstellten, um zu helfen und muslimische Flüchtlinge willkommen zu heißen, hat  unzählige islamistische Extremisten aufgebracht und ihr Weltbild erschüttert.“ Hören wir nicht auf, das Weltbild jener, die Hass sähen, zu erschüttern.     

Lisa, freiwillige Helferin aus Österreich