Mit einem Schlag versetzte die Covid-19-Pandemie die Welt in den Ausnahmezustand. Der neue Alltag ist geprägt von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren, von strengen Hygienemaßnahmen, von der Schließung der Schulen und kulturellen Einrichtungen, von der Umorganisierung der Arbeitswelt und der Lähmung der Wirtschaft, von geschlossenen Grenzen und ausgestorbenen Flughäfen – und nicht zuletzt von der Suche nach Wegen aus der Krise. Wie nachhaltig werden diese Einschnitte die Gesellschaft verändern? ARTE hinterfragt einige der Tendenzen, die sich für das Leben nach Corona abzeichnen.
Das Leben nach der Pandemie
Wie das Coronavirus unsere Gesellschaft nachhaltig verändert

Das Leben nach der Pandemie
Wie das Coronavirus unsere Gesellschaft nachhaltig verändert
Sanitärer Ausnahmezustand in Frankreich, scharfe Regierungsdekrete in Italien, weitgehende Vollmachten für den Ministerpräsidenten in Ungarn: Das Coronavirus greift nicht nur die Gesundheit an, sondern auch die europäischen Demokratien und ihre Institutionen. Immer häufiger werden Sondervollmachten erteilt und Kontrollinstanzen geschwächt. Verfassungsjuristen und Menschenrechtsorganisationen sehen darin eine potenzielle Gefahr für unsere Grundfreiheiten.
Nina Soyez
Am 23. März wurde in Frankreich das „Gesetz zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie“ verabschiedet, das den sanitären Ausnahmezustand erklärt. Es dient gewiss der „rechtlichen Absicherung“ der Vorbeugungsmaßnahmen, greift aber auch grundlegend in die Prozedur der Gesetzgebung ein. Es setzt nämlich die legislative Funktion und Kontrolle des Parlaments aus und ermächtigt den Ministerpräsidenten, per Dekret Maßnahmen zu ergreifen. Diese reichen von der Beschlagnahme von Material bis hin zur Preiskontrolle bei bestimmten Produkten.
Seit Beginn des Lockdowns wurden durch Verordnungen vor allem die Ausgangsbeschränkungen verschärft. Das Verlassen der Wohnung ist nur mit einem Formular möglich, das Begründung, Unterschrift, Datum und Uhrzeit enthalten muss. Die körperliche Betätigung im Freien ist auf eine Stunde pro Tag begrenzt und nur innerhalb eines Kilometers im Umfeld des Wohnorts möglich. Bei wiederholten Verstößen droht eine Höchstbuße von 3.750 € und sogar eine Haftstrafe von bis zu sechs Monaten.
Malik Salemkour, Präsident der französischen Liga für Menschenrechte, versteht vollkommen, dass „die aktuelle Ausnahmesituation auch außerordentliche Maßnahmen erfordert“, hat jedoch Bedenken bezüglich der „Machtkonzentration in den Händen der Exekutive“ und des „hohen Ausmaßes der Einschränkung der Bürgerfreiheiten“, vor allem aber im Hinblick auf die „massive Schwächung der Gewaltenteilung und der demokratischen Kontrolle“.
Neben der vorübergehenden Ausschaltung notwendiger demokratischer Instanzen bemängeln die Bürgerrechtsaktivisten auch den Wissenschaftlichen Ausschuss, der laut des französischen Covid-Gesetzes „die Regierung in ihren Entscheidungen beratend unterstützt“: „Wenn in einem Gremium, das die Exekutive berät, kein einziger Bürgerrechtler vertreten ist, obwohl sich die dort diskutierten Maßnahmen massiv auf die bürgerlichen Freiheiten auswirken, gibt einem das schon den fraglichen Eindruck, Rechte und Freiheiten wären ein Luxus, den man sich in einer sanitären Krise nicht mehr leisten könne“, unterstreicht Malik Salemkour.
„Für das Gesetz, das den Ausnahmezustand geschaffen hat, wurde hinsichtlich der öffentlichen Freiheiten und insbesondere der Schwächung der Gewaltenteilung eine besonders restriktive Form gewählt. Man hat die Entscheidung getroffen, der Exekutive einen Großteil der Macht zu geben.“
Malik Salemkour,
Präsident der französischen
Liga für Menschenrechte
Eine Folge von Ausnahmezuständen
Diesmal ist es ein „sanitärer“ Ausnahmezustand, doch er erinnert an jenen, der nach den Terroranschlägen von 2015 erklärt wurde. Der Notstand wurde als befristet präsentiert, in der Folge aber ganze sechs Mal verlängert, sodass er schließlich bis zum 1. November 2017 in Kraft blieb. Dass nun, knapp drei Jahre später, wieder ein Ausnahmegesetz verabschiedet wird, zeigt laut Stéphanie Hennette-Vauchez, Professorin für öffentliches Recht und Direktorin des Forschungszentrums für Grundrechte, „dass die Exekutive zunehmend dazu neigt, in Krisensituationen systematisch zu Ausnahmeregelungen zu greifen. Der Ausnahmezustand setzt jedoch per Definition eine ganze Reihe von Prozeduren und Instanzen aus, die üblicherweise die Rechtsstaatlichkeit und ein verfassungsgemäßes demokratisches Vorgehen garantieren.„
Die größte Gefahr in den Augen der Bürgerrechtler besteht darin, dass im Ausnahmezustand beschlossene Maßnahmen anschließend ins Gemeinrecht übertragen werden könnten. So findet sich etwa ein Teil der neuen Befugnisse, die 2015 im Rahmen des Ausnahmezustands eingeführt wurden, im „Gesetz für Sicherheit und Terrorbekämpfung“ von 2017 wieder. Diese stehen nun dem Innenminister und den Polizeipräfekten zur Verfügung (zum Beispiel Sicherheitszonen für Kultur- und Sportveranstaltungen, innerhalb derer der Verkehr eingeschränkt und Fahrzeuge durchsucht werden dürfen).
Härtetest für rechtsstaatliche Prinzipien
Italien war das erste EU-Land, das am 31. Januar infolge der Häufung von Covid-19-Erkrankungen für sechs Monate den Ausnahmezustand verhängte. Zu dieser Maßnahme wird dort jedoch häufiger gegriffen, etwa nach Naturkatastrophen wie Erdbeben oder die besonders ernste Hochwasser-Episode in Venedig Ende 2019. Da sich die Krankheit in Norditalien rasch verbreitete, verschärfte die Regierung die ersten Maßnahmen im Februar und stellte elf Städte in der Lombardei und Venezien unter Quarantäne. Die beiden Regionen wurden komplett abgeriegelt, niemand durfte hinein oder heraus. Inzwischen betrifft diese Quarantäne mehr als ein Viertel der norditalienischen Bevölkerung.
Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte erklärte überdies, er sei bereit, sämtliche Sicherheitskräfte inklusive Armee aufzubieten, um die Maßnahme durchzusetzen. Drei Wochen später verschärfte er auf dem Verordnungsweg auch das Strafmaß: Wer eine Covid-19-Erkrankung verschweigt, um der Zwangsquarantäne zu entgehen, riskiert bis zu zwölf Jahre Haft.
Gegen Ungarn lief schon vor der Epidemie ein Verfahren nach Artikel 7 der Europäischen Verträge wegen wiederholter Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien. Trotzdem nutzte Viktor Orban die Krise dazu, sich eine zeitlich unbegrenzte Regierungsvollmacht übertragen zu lassen. Sie gestattet es ihm, nicht nur Wahlen und Volksabstimmungen, sondern auch jedes beliebige Gesetz außer Kraft zu setzen. Eine Ausnahmeregelung, die die Verfassungsjuristin Krista Kovács an finstere Zeiten erinnert: „Am 23. März 1933 wurde in Reaktion auf die sogenannte ‚Reichstagskrise‘ ein Gesetz beschlossen, das Hitler die Vollmacht übertrug, an Parlament und Präsident vorbei Verordnungen zu erlassen. […] 87 Jahre später hat die ungarische Regierung ein identisches Ermächtigungsgesetz vorgelegt und verabschieden lassen.„
Gerade drei Wochen in Kraft, hat dieses Ermächtigungsgesetz den Verbündeten der Regierungspartei Fidesz bereits gestattet, einen Gesetzentwurf einzubringen, der Transgendern das Recht auf Personenstandsänderung aberkennen will. Zudem wurden Strafen bis zu fünf Jahren Haft für die Verbreitung von ‚Falschmeldungen‘ über das Coronavirus oder die Maßnahmen der Regierung eingeführt.
Angesichts solcher autoritärer Versuchungen erinnerte der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Rik Daems daran, dass die Europäische Menschenrechtskonvention „auch in nationalen Krisensituationen für das staatliche Handeln rechtlich verbindlich bleibt.“ Die EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen versprach, „dass notwendige Gegenmaßnahmen getroffen werden, wie wir das auch schon in der Vergangenheit getan haben.“
Begrenzter Lockdown
Deutschland und mehrere nordeuropäische Länder haben sich für einen begrenzten Lockdown ohne Erklärung des Ausnahmezustands entschieden. In diesen Ländern dürfen die Menschen weiter aus dem Haus gehen, solange sie den Sicherheitsabstand von eineinhalb Metern einhalten. „Deutschland hat höhere demokratische Kompetenz bewiesen, vor allem deshalb, weil es sehr viel dezentraler organisiert ist und der Bund sich dort bewusst ist, dass die Länder Rechte haben und in die Entscheidungsfindung einbezogen werden müssen“, stellt etwa Malik Salemkour fest. In der Tat sieht die bundesstaatliche Organisation die systematische Einbeziehung der Ministerpräsidenten der 16 Länder in allen Fragen der inneren Sicherheit vor.

„Deutschland hat höhere demokratische Kompetenz bewiesen“
Malik Salemkour,
Präsident der französischen
Liga für Menschenrechte
Überdies hat Deutschland das Ausmaß der Epidemie zweifellos besser eingeschätzt, frühzeitig eine massive Testkampagne gestartet (zunächst 300.000, inzwischen 500.000 Tests pro Woche) und die Zahl der Intensivbetten von 20.000 auf 40.000 ausgebaut – doppelt so viele wie in Frankreich. Doch die weniger restriktiven sanitären Maßnahmen sind auch von der Angst vor wirtschaftlicher Rezession bestimmt: Je nach Szenario könnte das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2,8 und 5,4 Prozent sinken. Auch deshalb treten in Deutschland bereits erste Lockerungen der Covid-Maßnahmen in Kraft.
Doch mit den Lockerungen könnten die Persönlichkeitsrechte in mehreren europäischen Ländern einen weiteren Schlag und möglicherweise einen unumkehrbaren Paradigmenwechsel erleiden: durch neue Maßnahmen wie den Einsatz von Überwachungsdrohnen (wie bereits hier in Großbritannien) oder das Sammeln personenbezogener Daten. Maßnahmen, die Stéphanie Hennette-Vauchez als von den Regierungen auferlegte „Bedingungen für die Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen“ beschreibt.
In einer Situation, in der „unsere Gesellschaften unter Druck und permanenter Spannung stehen“, stellt die Verfassungsjuristin die Wahrung der Freiheitsrechte in den Mittelpunkt des Krisenmanagements von morgen: „Wir wissen, dass der Ausnahmezustand auch eine Art Versuchslabor sein kann, das einen Dominoeffekt auf die Zukunft hat. (…) Es ist wichtig, die Kultur der Freiheit wiederherzustellen. Das bedeutet, dass man die Einschätzungen der Institutionen, die demokratische Standards und Menschenrechte verteidigen, nicht als nebensächliches Anhängsel behandelt, sondern sie immer intensiver in die Abwägung der Maßnahmen mit einbezieht.“
Nach mehreren Wochen Ausgangsbeschränkung suchen die europäischen Staaten nach Lösungen, um die Wirtschaft schrittweise zu reaktivieren. Es liegen mehrere Vorschläge vor. Unter anderem wird die Analyse der Mobilfunkdaten empfohlen, um Bewegungen von Menschenmengen und Einzelpersonen zu überwachen. Diese Möglichkeit wirft ethische Fragen zum Thema Persönlichkeitsrechte und Datenschutz auf.
Marion Roussey
Menschenströme überwachen
Auf der Suche nach Lösungen angesichts der Pandemie wendet sich die Europäische Union an den privaten Sektor. Ende März willigten acht Telekommunikationsunternehmen, darunter Orange und Deutsche Telekom, ein, ihre Kundendaten an nationale und europäische Forschungszentren zu übermitteln. Der Zweck: Die Bewegungen der Bevölkerung analysieren, um das Ausbreitungsrisiko des Virus vorhersagen zu können.
„Die Forscher werden beispielsweise herausfinden, dass 10, 15, 20 Personen einen bestimmten Pariser Stadtteil verlassen und sich nach Bordeaux begeben haben“, erklärt Yoann Gonthier Le Guen, Doktorand des öffentlichen Rechts und Datenschutzberater. Diese Analysen sollen den Behörden dabei helfen, ihre sanitären Maßnahmen anzupassen, damit das Land schrittweise wieder zur Normalität zurückkehren kann.
Anonyme, aggregierte Daten
Diese Praxis existiert bereits. In Frankreich arbeitet die Forscherin Vittoria Colizza, die das Projekt betreut, schon seit Jahren mit Orange zusammen, „um die Zusammenhänge zwischen der Mobilität der Bevölkerungen und der Verbreitung von Krankheiten, insbesondere in Afrika, zu studieren“, erklärt das französische Forschungsinstitut Inserm in einer Mitteilung. Im Falle von Covid-19 werden die Daten ebenfalls in der Gemeinsamen Forschungsstelle (JRC) der Europäischen Kommission in Brüssel gesammelt und analysiert.
„Es geht keinesfalls darum, die persönlichen Daten von Einzelpersonen zu studieren oder individuelle Bewegungen nachzuverfolgen“, stellen die Forscher klar. Die Daten werden nämlich aggregiert, also nach Kategorien zusammengestellt. Und sie sind anonym. „Theoretisch ist die Achtung des Privatlebens daher nicht in Gefahr“, erklärt Yoann Gonthier Le Guen. Zumindest unter der Bedingung, dass der Anonymisierungsprozess korrekt verläuft, dass also „eine endgültige und unwiderrufliche Trennung der Daten von der betreffenden Person stattfindet“. Das JRC verspricht, dass „alle von der Europäischen Kommission gesammelten und verarbeiteten Daten nach der Epidemie vernichtet werden“.
„Alle von der europäischen Kommission gesammelten und verarbeiteten Daten werden nach der Epidemie vernichtet.“
Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission
“Contact tracing”
Diese telefonischen Daten ermöglichen es jedoch nicht, konkrete Infektionsrisiken präzise zu erkennen. Daher wollen manche europäischen Staaten einen Schritt weiter gehen: Geolokalisierung und Gesundheitsdaten könnten miteinander kombiniert werden. „Zurzeit werden Vorschläge dazu gemacht, wie man Einzelpersonen innerhalb eines Landes oder grenzübergreifend folgen könnte, insbesondere infizierten Personen“, erklärt Wojciech Wiewiórowski, der europäische Datenschutzbeauftragte. Diese Techniken greifen auf Apps und auf die Bluetooth-Verbindung zurück, um das sogenannte Contact Tracing, die „Kontaktverfolgung“, zu entwickeln. Vorbild sind bereits existierende Methoden in China, Taiwan oder Singapur.
Doch im Gegensatz dazu zielt der europäische Ansatz nicht darauf ab zu erfahren, wohin sich die infizierten Personen begeben haben, sondern darauf, die Gebiete mit starker Infektionsrate zu orten und Menschen, die mit dem Virus in Kontakt gekommen sind, zu identifizieren.
Die Wirtschaft wieder ankurbeln
In Deutschland arbeiten mehrere Firmen fieberhaft an der Entwicklung von mobilen Anwendungen. Mathias Reidel ist seit über 20 Jahren in der Software-Industrie beschäftigt. Zusammen mit dem Generaldirektor des Unternehmens Open as App hat er innerhalb von 48 Stunden die App Covid-19 Radar entwickelt. „Ausgangsbeschränkungen können sich sehr nachteilig auf unsere Wirtschaft auswirken“, erklärt er. „Dabei gibt es in Deutschland Gegenden, in denen die potentielle Ansteckungsgefahr ziemlich niedrig ist.“ Die App soll folglich dazu dienen, jene Zonen zu erkennen, in denen das Risiko geringer ist – anhand einer Heatmap, die beinahe in Echtzeit Lokalisierung und Status der Nutzer anzeigt.

„Das Prinzip ist einfach“, so Mathias Reidel. „Man wählt eine Farbe aus – grün, orange oder rot – die den eigenen Gesundheitszustand darstellt, man gibt seine Geolokalisierungsdaten frei und man schickt diese Informationen an einen Server.“ Die App ist bereits online und wurde zweifach darauf untersucht, ob sie das Privatleben schützt. „Das System funktioniert auf den Grundlagen von Freiwilligkeit und Anonymität“, versichert Ralf Hertneck. „Es ist daher unmöglich, positiv getestete Haushalte oder Individuen zu lokalisieren, da die Karte einen gewissen Grad der Unbestimmtheit wahrt und die Daten regelmäßig aktualisiert und vernichtet werden.“
Laufende Tests
Dieses Konzept verführt zahlreiche Staaten, die so schnell wie möglich die schrittweise Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen einleiten möchten. Auf europäischer Ebene arbeitet zurzeit ein Kollektiv von über hundert Forschern (PEPP-PT) an der Entwicklung eines Protokolls zur Koordinierung der Apps verschiedener Länder. Auch da sollen die Daten anonym bleiben. Der Entwurf verwendet drahtlose Bluetooth-Technologie, um Telefone zu orten, die sich in der Nähe von infizierten Personen befinden, und somit potentielle Ansteckungsgefahren zu erkennen. „Dadurch würde es uns wieder möglich, innerhalb von Europas Grenzen zu reisen“, erklärt Thomas Wiegand, Mitglied des Kollektivs und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Nachrichtentechnik, das Heinrich-Hertz-Institut (HHI). „Wenn ich nach Frankreich fahre und dort Kontakt mit einer infizierten Person habe, kann ich eine Meldung erhalten, auch wenn ich bereits wieder in Deutschland bin.“ Danach steht es den Benutzern frei, sich in häusliche Quarantäne zu begeben oder einen Arzt aufzusuchen. „Wenn jeder sich verantwortlich verhält, können die Anderen, die nicht betroffen sind, weiter arbeiten und ein normales Leben führen“, erklärt der Ingenieur.
„Wir sind im Kontakt zu den jeweiligen Datenschutzkommissionen der Länder, um sicherzustellen, dass das Recht auf Achtung der Privatsphäre nicht verletzt wird.“
Wojciech Wiewiórowski, europäischer Datenschutzbeauftragter
Das System ist noch nicht offiziell. Es befindet sich gegenwärtig in der Testphase in einer Kaserne der Bundeswehr. „Wir simulieren Szenarien und erfassen die erhaltenen Daten, um sie danach mit Situationen auf reale Entfernung zu vergleichen“, betont Thomas Wiegand. Sollten die Versuche überzeugen, könnte das System noch vor Ende April zum Einsatz kommen. Die Ergebnisse werden von mehreren EU-Ländern genau beobachtet, darunter Frankreich. „Wir sind im Kontakt zu den jeweiligen Datenschutzkommissionen dieser Länder, um sicherzustellen, dass das Recht auf Achtung der Privatsphäre nicht verletzt wird“, betont der europäische Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiórowski. Denn der Zugriff auf diese Art von Apps wirft zahlreiche ethische Fragen auf. In Taiwan zum Beispiel werden sie von den Behörden benutzt, um Einzelpersonen, die sich der Ausgangssperre widersetzen, aufzuspüren und zu verwarnen.
Temporäre Maßnahme
Datenschutz wird in Europa durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) geregelt. Theoretisch begrenzt diese die Auswertung der Gesundheitsdaten, die zu den sogenannten empfindlichen Daten gezählt werden. Doch die Epidemie ändert die Lage: „Die Auswertung kann genehmigt werden, wenn sie von einer öffentlichen Behörde unternommen wird, um gegen eine ernste grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohung zu kämpfen“, erklärt Yoann Gonthier Le Guen. Die einzige Einschränkung, dem Doktoranden zufolge: Die Behörden sollten die von der App gelieferten Gesundheitsdaten nicht ohne vorheriges Einverständnis der Personen einsammeln und verwenden. „Alles hängt davon ab, wie die App gestaltet ist und welche Daten sie sendet“, erklärt er. „Sobald eine App installiert ist und auf Ihrem Mobiltelefon funktioniert, ist technisch alles möglich.“
Mit anderen Worten: Daten sammeln ist legal, doch es soll nur in einem gewissen Rahmen und auf begrenzte Zeit geschehen. Der europäische Datenschutzbeauftragte sieht die Gefahr darin, dass eben jener temporäre Aspekt vergessen werden könnte. „Diese Daten könnten zu kommerziellen oder zu Betrugszwecken übernommen werden“, erklärt Wojciech Wiewiórowski und erinnert an das norwegische Beispiel der Anschläge von Utøya im Jahr 2011. „Jahre später haben Wissenschaftler, die zu dem Thema recherchierten, die Kontakte der Überlebenden verwendet, obwohl diese einen Schlussstrich unter die Tragödie hatten ziehen wollen.“
Ein weiteres Risiko: die Verletzung der individuellen Freiheit. „Anhand des Geschlechts der Person, mit der Sie Ihr Zuhause teilen, anhand Ihres Besuchs einer religiösen Einrichtung oder eines Gewerkschafts- oder Parteibüros kann man enorm viel über Sie erfahren“, erklärt Yoann Gonthier Le Guen. „Daher ist der Schutz der Lokalisierungsdaten genauso wichtig wie der Schutz der Gesundheitsdaten.“
„Anhand des Geschlechts der Person, mit der Sie Ihr Zuhause teilen, anhand Ihres Besuchs einer religiösen Einrichtung oder eines Gewerkschafts- oder Parteibüros kann man enorm viel über Sie erfahren.“
Yoann Gonthier Le Guen, Datenschutzberater
Welche Schutzwälle?
Die verschiedenen App-Entwickler bestehen darauf: Ihr Modell entspricht den strikten Anforderungen Deutschlands in Sachen Datenschutz. Doch auf europäischer Ebene ist die maßgebliche Gesetzgebung lockerer, sie beruht auf dem Gleichgewicht von Freiheit und Verantwortung. Die eigentlichen Schutzmaßnahmen seien daher laut Yoann Gonthier Le Guen die gegen Datenverletzung vorgesehenen Strafen: In Frankreich zum Beispiel drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis.
Auch, wenn sich in Zeiten der Epidemie das massive Sammeln und Bearbeiten von Daten ausnahmsweise als legal und legitim erweist, besteht der europäische Datenschutzbeauftragte auf zwei Prinzipien, um Missbrauch zu vermeiden: Transparenz und Kontrolle. „Man muss wissen, wer die Daten verwendet, zu welchem Zweck und was damit geschehen wird, wenn die Gefahr vorüber ist“, meint Wojciech Wiewiórowski. „Und falls Missbrauch stattfindet, muss man sich auf eine wirksame juristische Kontrolle verlassen können. Das ist die Grundlage des Vertrauens, und ohne Vertrauen gibt es keinen Fortschritt.“
Mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurde auf einen Schlag gelebter Alltag, was zuvor nur spärlich genutzt wurde: Die Schließung von Kindergärten und Schulen zwang Lehrkräfte und Familien, sich mit digitalen Lernangeboten auseinanderzusetzen, und die immer strikteren Ausgangsbeschränkungen verbannten Millionen Beschäftigte ins Homeoffice. Fungiert das Coronavirus als Digitalisierungsturbo?
Anja Maiwald
Die Pandemie und die damit einhergehenden sanitären Maßnahmen haben tiefgreifende Auswirkungen auf sämtliche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens: unsere Beziehungen, unsere Arbeit, unsere Freizeit, unseren Konsum. In ihrem Versuch, der Krise standzuhalten, bedient sich die Gesellschaft in all diesen Bereichen häufig ein und desselben Werkzeugs: der Digitalisierung. Wir bleiben über Chats und Videokonferenzen in Kontakt, arbeiten im Homeoffice, verlegen die Schule auf Online-Plattformen, bestellen Einkäufe lieber im Netz und verbringen unsere Freizeit nunmehr in virtuellen Museen oder Clubs – wenn wir uns nicht noch länger als zuvor auf Streaming-Diensten herumtreiben.
Natürlich gab es die meisten dieser Möglichkeiten bereits vor der Epidemie. Doch gerade im Bereich Arbeit und Bildung hat die aktuelle Situation uns das digitale Potential neu entdecken lassen. Mit Homeoffice und Homeschooling erleben wir ein Echtzeit-Experiment, das unsere Gewohnheiten nachhaltig verändern dürfte.

Die Stunde des Homeoffice
„Wir erleben einen Paradigmenwechsel“, versichert Patrick Lévy-Waitz, Vorsitzender des französischen Thinktanks „Anders arbeiten“. Er ist überzeugt, dass die Dauer der Ausgangsbeschränkungen ausreichen wird, um den Einsatz von Homeoffice auch auf lange Sicht voranzutreiben. „Die Krise hat uns gezwungen, unsere technologische Infrastruktur aufzubessern“, argumentiert der Unternehmer. „Meine eigene Firma hat mit Höchstgeschwindigkeit an technologischen Lösungen gearbeitet: Wir hatten keine andere Wahl, als uns anzupassen. Diese neuen Lösungen sind jetzt einsatzbereit für hinterher. Die Leute, die nicht daran gewohnt waren, wurden eingearbeitet; jene, die Vorbehalte hatten, sind gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen und lassen sich vielleicht überzeugen. Diese Arbeitsweise wird langsam zur Gewohnheit. Wir sehen heute, dass Anwesenheit in vielen Berufen nicht mehr notwendig ist.“
Bevor sich das Coronavirus ausbreitete, bot nur eines von vier deutschen Unternehmen seinen Mitarbeitern die Möglichkeit, von außerhalb des Büros zu arbeiten, so eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Nur 22 Prozent der Arbeitnehmer machten davon gelegentlich Gebrauch. In Frankreich waren es 2019 im privaten Sektor etwa 30 Prozent, laut des Versicherers Malakoff Humanis.
„Wir sehen heute,
dass Anwesenheit
in vielen Berufen
nicht mehr notwendig ist.“Patrick Lévy-Waitz,
Stiftung „Anders arbeiten“
Dessen Umfrage vom Februar dieses Jahres konnte die Auswirkungen der nahenden Pandemie noch nicht bemessen, doch schon damals gaben 36 Prozent der Befragten an, vom Arbeitgeber aufgefordert worden zu sein, im Epidemie-Fall von Zuhause zu arbeiten. Einige Wochen später zeigt schließlich eine Studie im Auftrag des französischen Forschungszentrums für Politik Cevipof: Aktuell sind etwa 34 Prozent aller französischen Arbeitnehmer dauerhaft im Homeoffice.Nachdem Mitte März dutzende Länder Ausgangsbeschränkungen verhängt und Unternehmen auf der ganzen Welt ihre Angestellten nach Hause geschickt haben, ist sicher: Nie zuvor haben so viele Menschen im Homeoffice gearbeitet. Der plötzliche Boom digitaler Angebote für den Arbeitsmarkt spricht für sich: Videokonferenz-App Zoom hat verkündet, im März 200 Millionen tägliche Nutzer verzeichnet zu haben, gegen etwa zehn Millionen Ende letzten Jahres. Die täglichen Nutzerzahlen von Konkurrent Microsoft Teams sind Mitte März innerhalb einer Woche um satte 37 Prozent in die Höhe geschnellt. Patrick Lévy-Waitz erklärt: „Die Gesellschaft hatte die Digitalisierung bisher als ergänzendes Werkzeug integriert. Jetzt ist sie, zumindest im Dienstleistungssektor, innerhalb weniger Tage zur Bedingung geworden, um unsere Arbeit auszuüben. Aus Bequemlichkeit wurde Notwendigkeit.“
Einmal Homeoffice, immer Homeoffice?
Doch was bleibt vom digitalen Arbeiten, wenn diese Notwendigkeit wieder wegfällt? Kehrt die vorherrschende Anwesenheitskultur zurück, sobald die Ausgangsbeschränkungen gelockert werden?
Eine internationale Umfrage des amerikanischen Marktforschungsinstituts Gartner vom 30. März scheint das Gegenteil zu beweisen: Knapp drei von vier Geschäftsführern erwägen demnach, nach der Krise mindestens weitere fünf Prozent ihrer Angestellten dauerhaft vom Büro ins Homeoffice zu schicken.
„Niemand weiß, wie das Ende der Ausgangsbeschränkungen von statten gehen wird. Aber ich bin mir absolut sicher, dass sich unsere Auffassung vom Homeoffice erheblich verändert haben wird“, bestätigt Patrick Lévy-Waitz. Er argumentiert mit den Vorteilen dieser Arbeitsform, die sich in den letzten Monaten vielen offenbart hätten: Keine verlorene Zeit im Stau, kein Stress in den Menschenmassen der U-Bahn, keine Ablenkung durch Kollegen und mehr Autonomie im Tagesablauf. „Man sieht deutlich, dass eine neue Herangehensweise entsteht, die die Herausforderungen des ökologischen Wandels, das Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben und die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz in sich vereint.“
Natürlich eignen sich nicht alle Berufsfelder für die Arbeit aus der Ferne. Die Studie von Malakoff Humanis betrachtet 60 Prozent der Arbeitsplätze in der französischen Privatwirtschaft als ungeeignet – allerdings gäbe es dort auch Potential für zehn Prozent mehr Franzosen im Homeoffice. Das deutsche IAB geht davon aus, dass bis zu 30 weitere Prozent „der klassischen Bürojobs“ von zu Hause erledigt werden könnten, hauptsächlich im Dienstleistungsbereich. Diese Möglichkeit dürfte die aktuelle Krise vielen Personalleitern vor Augen geführt haben.
Allerdings gibt Patrick Lévy-Waitz zu bedenken, dass der künftige Einsatz von Homeoffice für Arbeitgeber derzeit nicht die dringlichste Überlegung ist: „Die Unternehmer versuchen derzeit, ihre Betriebe zu retten, Kredite aufzutreiben, Liquiditätspläne aufzustellen und Umschuldungen anzufragen. Erst, wenn wir diese Etappe hinter uns lassen, wird Homeoffice selbstverständlich eine der Überlegungen im Personalmanagement sein.“
„Es entsteht eine
neue Herangehensweise,
die die Herausforderungen
des ökologischen Wandels,
das Gleichgewicht
zwischen Beruf und Privatleben
und die Leistungsfähigkeit
am Arbeitsplatz in sich vereint.“Patrick Lévy-Waitz,
Stiftung „Anders arbeiten“

Digital arbeiten, digital lernen
Im Bereich der Bildung könnte die aktuelle Erfahrung den nötigen Hebel darstellen für eine Veränderung, die schon länger angestrebt wird. Die Hälfte der europäischen Bildungssysteme war in den letzten zwei Jahren dabei, den Lehrplan für mehr digitale Kompetenz zu überarbeiten. Frankreich verabschiedete bereits 2015 den „Plan numérique pour l’éducation“ und stellte für moderne Ausstattung und die Entwicklung digitaler Lehrstrategien eine Milliarde Euro zur Verfügung. Die Bundesrepublik beschloss 2019 den Digitalpakt, mit fünf Milliarden Euro.
Doch der Weg ist noch weit: In der aktuellen ICILS-Studie, die 2018 die Medienkompetenzen von Achtklässlern untersuchte, berichten gerade mal acht Prozent der französischen und vier Prozent der deutschen Schüler, im Unterricht täglichen Gebrauch der sogenannten „Informations- und Kommunikationstechnologien“ zu machen. Zum Vergleich: In Dänemark sind es 81 Prozent! Allein Zugang zu WLAN haben den Angaben zufolge nur rund ein Viertel aller deutschen Schulen und etwas mehr als ein Drittel aller französischen.

In diese analoge Bildungslandschaft platzte die Coronavirus-Epidemie. Auf einen Schlag haben Schulen gar keine andere Wahl mehr, als auf digitale Werkzeuge zurückzugreifen, die den Unterricht auch auf Distanz ermöglichen. Online-Lernplattformen zum Beispiel meldeten im März Rekordzahlen. Darunter der Lernraum Berlin, auf den erst 50.000 Schüler und Lehrkräfte am Tag zurückgriffen, dann weit über eine Million. Der größte französische Anbieter, das Nationale Zentrum für Fernunterricht (Cned), verzeichnet auf seiner Plattform „Mein Klassenzimmer zuhause“ („Ma classe à la maison“) mittlerweile 2,5 Millionen angemeldete Familien, gegen 240.000 vor den Schulschließungen.
„Die Digitalisierung ist Mainstream geworden.“
Jacob Chammon, Forum Bildung Digitalisierung
„Die Digitalisierung ist Mainstream geworden, sie ist für alle in den Vordergrund gerückt“, beobachtet Jacob Chammon, geschäftsführender Vorstand des Forums Bildung Digitalisierung. „Von null auf hundert mussten die Schulen nicht nur Konzepte erarbeiten, sondern sie auch in die Tat umsetzen. Hut ab für die Kreativität und die Initiativen, die überall gestartet wurden, um diese schwierige Situation zu meistern: Online-Sprechstunden, Lernportale, Learn Management Systeme, Online-Elternabende, … Die Schulleitungen sind unglaublich stolz auf die Lehrkräfte. Selbst jene, die vorher nichts mit Digitalisierung am Hut hatten, sind plötzlich Meilensteine gegangen.“
„Es geht nicht nur um Technik“
Dieser Digitalisierungsschub darf sich in den Augen des langjährigen Schulleiters nicht nur auf die derzeitige Ausnahmesituation beschränken. Die Erfahrungen und Fortschritte aus der Coronakrise will er „nachhaltig im Schulprogramm verankert“ sehen: „Es ist wichtig, dass wir nicht „back to normal“ gehen. Wir müssen genau hinsehen: Was ist nutzbar für die Zukunft, wo müssen wir Verbesserungen machen und was möchten wir nicht mitnehmen.“
Damit aus der Notfalllösung der letzten Wochen ein tragbares Zukunftsmodell werden kann, sieht Chammon nicht nur bei der technischen Infrastruktur Nachbesserungsbedarf. „Jetzt ist es wichtig, dass überall gute Fortbildungsangebote für Lehrkräfte, Schulleitungen und Schulverwaltungen geboten werden“, fordert er. „Was wir beobachtet haben, ist eine Wissenslücke: Was ist eigentlich gute digitale Didaktik? Eingescannte Arbeitsblätter reichen da nicht aus. Auf einmal gibt es eine Vielzahl digitaler Angebote für Schulen. Da braucht es Richtlinien zur Orientierung.“
Für die Zukunft der digitalen Bildung weist Jacob Chammon allerdings auch Grenzen auf. Bei aller Innovationslust gilt es, den Datenschutz nicht aus den Augen zu verlieren, ebenso wenig wie die Chancengleichheit: „Nicht alle Schüler haben zuhause tragfähiges Internet und geeignete Endgeräte, nur wenige Lehrkräfte haben Arbeitsgeräte zuhause. Wir müssen aufpassen, dass die soziale Schere während der Schulschließungen und in der Zeit danach nicht weiter auseinandergeht“, mahnt er.
„Wir müssen aufpassen,
dass die soziale Schere
während der Schulschließungen
und in der Zeit danach
nicht weiter auseinandergeht.“Jacob Chammon,
Forum Bildung Digitalisierung
Tatsächlich unterstreicht die Coronakrise die digitale Kluft, die auch bei den pädagogischen Medienkonzepten von morgen nicht vergessen werden darf. Laut Statistischem Bundesamt gab es 2018 in fast zehn Prozent der deutschen Haushalte keinen Computer. Das französische Forschungszentrum CRÉDOC schlüsselt auf: 92 Prozent der Franzosen mit hohem Einkommen sind mit einem Computer ausgestattet, aber nur 64 Prozent jener mit niedrigem Einkommen. Damit jeder Schüler gleichermaßen an den Möglichkeiten der Digitalisierung teilhaben kann, müsste also der Zugang zu geeigneten Endgeräten für alle garantiert werden.

Ein oft beschworenes Zukunftsszenario, in dem die Digitalisierung das Klassenzimmer ersetzt, weist Chammon von sich. Er verweist auf die Schule als soziales Gefüge, in dem die Kinder Gemeinschaft erleben: „Ich bin früher oft gefragt worden, ob Lehrer in Zeiten der Künstlichen Intelligenz überflüssig werden. Ich glaube, diese Corona-Testphase hat gezeigt, wie wichtig Beziehungsarbeit auf allen Ebenen ist, wie wichtig der persönliche Kontakt ist und dass Lehrkräfte nie überflüssig werden. Ein Schüler kann auch losgelöst vom Klassenzimmer lernen, aber nicht die ganze Zeit. Es geht nicht nur um Technik. Es geht um gute Didaktik, gute Pädagogik und, wie immer, gute Beziehungsarbeit – das gilt auch in Zeiten der Digitalisierung.“
Die Krise als Chance
Die Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung haben sich mit der Coronakrise deutlich abgezeichnet. Schon wenige Wochen nach Ausbruch der Pandemie scheint diese Erfahrung die Arbeitswelt und die Bildungslandschaft in ihren Grundfesten erschüttert zu haben.
Was als pures Krisenmanagement begann, hat sich in kurzer Zeit zu einem viel beachteten Paradigmenwechsel ausgewachsen: Homeoffice und digitale Lerninhalte haben eine Art Feuerprobe bestanden. Beide müssen sich noch auf lange Sicht beweisen. Doch wenn man der Krise etwas Gutes abgewinnen will, dann ist es unter anderem der digitale Fortschritt in diesen beiden Bereichen.
Mutter Erde als große Gewinnerin der weltweiten Ausgangsbeschränkungen? Satellitenbilder aus China, Indien und Europa legen das nahe, denn die Luftverschmutzung – verantwortlich für neun Millionen Todesfälle im Jahr 2019 – geht während der Coronakrise drastisch zurück. Und mit einem Rückgang der CO2-Emissionen um 40 Prozent wird Deutschland nun sogar doch noch seine Klimaziele für 2020 erreichen. Doch sind das wirklich gute Nachrichten? Können Klima und Umwelt langfristig von der aktuellen Atempause profitieren?
Pierre Steinmetz und Clara Surges
Die Wissenschaft betrachtet die auf den ersten Blick positiven Entwicklungen differenzierter und ist vorsichtig mit vorschnellen Schlüssen. Experten warnen vor der Falle, den Klimawandel als eine kurzfristige Herausforderung zu betrachten. „Klima-Probleme lassen sich nur über längere Zeiträume beurteilen. Treibhausgase sind zum Beispiel durchsichtige Gase, die man auf den Satellitenbildern nicht sehen kann“, erklärt der französische Klimaforscher Hervé Le Treut.
Das Problem: Die aktuelle Gesundheitskrise zieht eine große Wirtschaftskrise nach sich, mit unmittelbaren Folgen. In seinem jüngsten Bericht warnt der Internationale Währungsfonds IWF, die Weltwirtschaft werde in diesem Jahr „die schwerste Rezession seit der Großen Depression erleben, schlimmer als die globale Finanzkrise von 2008 bis 2009“. Die großen Wirtschaftsmächte reagieren auf diese Prognose mit umfassenden Konjunkturprogrammen. So kündigte Präsident Trump an, 2,2 Billionen Dollar in die amerikanische Wirtschaft pumpen zu wollen – eine außergewöhnlich hohe Summe.

Der ökonomische Wiederaufbau – zweifellos eine Priorität. Doch wie sieht es mit Umweltfragen aus? Werden sie dem wirtschaftlichen Aufschwung geopfert werden? Zumindest scheinen sie derzeit das Nachsehen zu haben: Die UN-Klimakonferenz, die im November in Glasgow stattfinden sollte, wurde bereits auf 2021 verschoben. Es sollte vor allem darum gehen, wie die Staaten ihre Anstrengungen für den Klimaschutz verstärken können. Rede und Antwort stehen – später. Manche Staatsmänner dürfte das freuen. Denn die Signale, die einige mächtige Akteure senden, werfen Fragen auf. Beispiele:
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USA und China:
China hat den Bau dutzender neuer Kohlekraftwerke angekündigt, als eine der Maßnahmen des Konjunkturpakets, das 50 Billionen Yuan (6,5 Milliarden Euro) umfasst.
Auch der amerikanische Präsident will mit seinem Rettungsprogramm der Erdölindustrie des Landes unter die Arme greifen und damit hunderttausende Jobs in der Branche retten. Denn der Nachfrageeinbruch im Zuge des Lockdowns hat bereits zu einer beispiellosen Ölpreiskrise geführt. Richtlinien für umweltschädliche Unternehmen wiederum hat die Umweltbehörde der USA bereits zu Beginn der Coronakrise ausgesetzt.
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Mitgliedstaaten der Europäischen Union:
Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, macht unmissverständlich klar: „Der Green Deal ist so notwendig wie vor der Krise. Die globale Erwärmung ist nicht verschwunden.“ So sehen das auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze und 16 weitere europäische Umweltminister, die in einem Schreiben an Brüssel appellieren, das Klima nicht aus den Augen zu verlieren. Doch damit sind nicht alle Mitgliedstaaten einverstanden. Tschechien beispielsweise stellt die grünen Ambitionen der EU offen in Frage: Bereits am 16. März forderte Premierminister Andrej Babiš die EU auf, den Green Deal zu „vergessen“ und sich auf die Pandemie zu konzentrieren. Am nächsten Tag wagte der polnische Vizeminister für Staatsvermögen Janusz Kowalski einen ähnlichen Vorstoß und stellte den Nutzen des EU-Emissionshandelssystems in Frage – das Kernelement der EU-Politik zur Bekämpfung des Klimawandels.
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Industrie und Interessengruppen:
Auch hier steht der Green Deal im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der europäische Arbeitgeberverband „Businesseurope“ hat die Europäische Kommission um „Flexibilität“ bei der Umsetzung der EU-Klimaziele gebeten. Die Lobbygruppe „European Plastics Converters“ (EuPC) forderte, die Richtlinie zum Verbot von Einwegplastik aufzuheben. Und der Verband der europäischen Automobilhersteller (ACEA) versucht zu erreichen, dass die für 2020 geplante Verschärfung der CO2-Grenzwerte für Neuwagen um ein Jahr verschoben wird.
Wie sollen die Konjunkturpakete der Zukunft aussehen?
Derartige Rückschritte und Aufschübe wären zahlreichen Umweltschützern, Energieexperten, Verbänden, Ökonomen und Politikern ein Dorn im Auge. In Deutschland haben sich diese Woche einige von ihnen per Brief an die Kanzlerin gewandt, um die Debatte um den Wiederaufbau der Wirtschaft mitzuprägen. „Sie haben es in der Hand, die ökonomische Zwangspause durch Covid-19 für einen nachhaltigen Neustart unserer Volkswirtschaft zu nutzen“, fordern die Unterzeichner laut Informationen der Süddeutschen Zeitung. Für grüne Akteure ist klar: Die Rettung der Wirtschaft und die Rettung Klimas müssen Hand in Hand gehen.
„Die ökonomische Zwangspause durch Covid-19 für einen nachhaltigen Neustart unserer Volkswirtschaft nutzen!“, fordern Umweltschützer
Davon ist auch der Thinktank „Agora Energiewende“ überzeugt. Jetzt sei der Moment, massiv in neue CO2-arme Technologien zu investieren, anstatt „alte Strukturen wieder aufzubauen, die uns bei der nächsten Krise, der Klimakrise, auf die Füße fallen“, fordert Direktor Patrick Graichen.
Die Denkfabrik, die auch die Bundesregierung berät, hat in den letzten Wochen ein Konzept für ein grünes Konjunkturprogramm von 110 Milliarden Euro ausgearbeitet, “Doppelten Booster” nennt sie es.
Energie, Mobilität, Industrie – auf 28 Seiten wird überlegt, wie viel Geld jeweils in welches zukunftsfähige Projekt investiert werden könnte.
Die Hauptmaßnahme, um die Kaufkraft wieder anzukurbeln: die Senkung der Strompreise – denn niedrige Strompreise machen sich im Portemonnaie schneller bemerkbar als die bereits diskutierten Steuererleichterungen, so die Idee. Die Grundlage für niedrige Strompreise sei der Ausbau von Wind- und Solarenergie.

"Doppelter Booster" der Agora Energiewende
Viele der Ideen können als „grüner Konsens“ gelten, der von Umweltverbänden, Klimaexperten und Ökonomen gefordert wird – nicht nur in Deutschland. In Frankreich hat die „Bürgerversammlung fürs Klima“ 50 Vorschläge ausgearbeitet, wie die Wirtschaft nach der Coronakrise so grün wie möglich wieder aufgebaut werden könnte. Die Ideen wurden der Regierung überreicht, auch der Tageszeitung Le Monde liegen sie vor.
Eine Auswahl der Ideen für mehr Umwelt- und Klimaschutz, über die in Deutschland und Frankreich diskutiert wird:
Die „Bürgerversammlung fürs Klima“
ist im Herbst 2019 von der französischen Regierung einberufen worden. Im ganzen Land, quer durch alle sozialen Schichten, wurden 150 Personen als Teilnehmer angeworben – ein repräsentativer Querschnitt. Fünf thematische Arbeitsgruppen erarbeiten konkrete Vorschläge für mehr Klimaschutz.
- Mobilität:
Die Autobranche ist von der Coronakrise schwer getroffen. Unternehmen und Politiker bringen bereits eine Abwrackprämie ins Gespräch, wie 2009 nach der Finanzkrise. Umweltverbände schlagen angesichts einer staatlichen Absatzhilfe jedoch Alarm: „Es darf keinen Euro Förderung für Diesel, Benziner oder Plug-in-Hybride mehr geben“, sagte Greenpeace-Verkehrsexperte Tobias Austrup.
„Wem die Zukunft der deutschen Autoindustrie am Herzen liegt, der muss jetzt klarmachen, dass es staatliche Hilfen nur für kleine Elektroautos geben kann.“
Vorgeschlagen wird auch, staatliche Beihilfen für den Ausbau der Ladeinfrastrukturen in ländlichen Gebieten sowie die Modernisierung der Busflotten zu nutzen. Ähnliche Töne in Frankreich: Die „Bürgerversammlung fürs Klima“ will die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erhöhen, z.B. durch die Senkung der Mehrwertsteuer auf Zugfahrkarten von 10 auf 5,5 Prozent. Die Vermarktung von Neuwagen mit hohen Emissionen (mehr als 110 g von CO₂/km) soll ab 2025 verboten werden, stattdessen sollen zinslose Darlehen für den Kauf eines sauberen Fahrzeugs angeboten werden.
- Bauwirtschaft:
Die französische „Bürgerversammlung fürs Klima“ pocht darauf, dass bis 2040 20 Millionen Gebäude komplett saniert werden sollten – und zwar ehrgeiziger, als bisher vorgesehen: „Unser Ziel ist es, von einer Renovierung der kleinen Schritte zu einer dreimal so schnellen Komplettsanierung (Dach, Dämmung, Fenster, Heizung) überzugehen.“ Durch die Maßnahme könnten außerdem Arbeitsplätze geschaffen sowie Stromrechnungen und Gesundheitsausgaben gesenkt werden. Die Notwendigkeit von energetischen Gebäudesanierungen sieht auch “Agora Energiewende”. Außerdem schlägt die Denkfabrik ein Abwrackprogramm für Ölheizungen vor, um Anreize für den Umstieg auf Wärmepumpen zu schaffen.
- Industrie:
Die Wiederbelebung von Chemie-, Stahl- und Grundstoffindustrie könnte laut „Agora Energiewende“ an Maßnahmen zur CO2-Einsparung gekoppelt sein. Eine große Chance liege vor allem im Einstieg in die Produktion von grünem Wasserstoff, der als Energieträger der Zukunft gilt. Bei der Stahlproduktion z.B. wird bereits versucht, fossile Energieträger wie Erdöl durch Wasserstoff zu ersetzen. Das wird aber erst dann nachhaltig, wenn für die Herstellung des Wasserstoffs regenerative Energien verwendet werden. Für einen Ausbau klimafreundlicher Elektrolyse-Anlagen schlägt „Agora Energiewende“ deshalb eine Investition von fünf Milliarden Euro vor. Das Plus: Durch den Aufbau dieses neuen Wirtschaftszweiges werden Arbeitsplätze geschaffen, sowie ein europaweiter neuer Markt für sauberen Wasserstoff.
Werden die Konjunkturpakete anders aussehen als vor zehn Jahren?
Generell betonen Experten die Notwendigkeit, verstärkt in gemeinsame europäische Projekte zu investieren und die nationalen Konjunkturprogramme am Green Deal auszurichten. Doch nachhaltige, umweltfreundliche Ideen und Vorsätze – sind sie umsetzbar? Oder wird es so laufen wie nach der Finanzkrise 2009, als die EU Rettungspakete für Billig-Airlines und die Fleisch- und Kohleindustrie schnürte?
Fatih Birol von der International Energy Agency (IEA) ist zuversichtlich: „Im Vergleich zu früheren Konjunkturpaketen sind erneuerbare Technologien heute bezahlbarer, wir haben bei Elektrofahrzeugen große Fortschritte gemacht und außerdem gibt es eine unterstützende Finanzgemeinschaft für den Übergang zu sauberen Energien.“ Und eine unterstützende mediale Öffentlichkeit, die in großen Teilen umweltbewusster und konsumkritischer ist als vor 10 Jahren. Auch die Bewegung “Fridays for Future” macht wieder mobil: Am 24. April findet ein globaler Klimastreik statt – in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbot natürlich im Netz.