26 Jahre Autokratie in Weißrussland

Lukaschenko vor einer umstrittenen 6. Amtszeit

Hanna Peters, Mathieu Boch, Mikaël Cuchard

26 Jahre Autokratie in Weißrussland

Lukaschenko vor einer umstrittenen 6. Amtszeit

Hanna Peters, Mathieu Boch, Mikaël Cuchard

Seit 26 Jahren regiert Alexander Lukaschenko Weißrussland mit harter Hand. Nach der gewonnenen Wahl steht ihm eine sechste Amtszeit bevor. Doch die Opposition zweifelt das Wahlergebnis an. Unterstützt wird sie von zehntausenden Demonstranten, die seit Wochen ihren Unmut über den « letzten Diktator Europas » zum Ausdruck bringen.

ARTE Info zieht Bilanz über das Vierteljahrhundert Alexander Lukaschenko und erklärt die Hintergründe seiner Langzeitherrschaft.

In der Nacht nach Lukaschenkos umstrittener Wiederwahl kam es zu schweren Protesten.

Für die Wahlkommission ist die Sache klar: Mit 80,23 Prozent der Stimmen geht Alexander Lukaschenko als Sieger aus der Präsidentschaftswahl am 9. August hervor. Die Opposition hingegen hält das Ergebnis für gefälscht. Seit der Wahl kommt es in Minsk und anderen Städten zu schweren Zusammenstößen von Sicherheitskräften mit Bürgern: Tausende Demonstranten wurden festgenommen, es gibt rund 100 Verletzte auf beiden Seiten, mindestens ein Mann kam ums Leben. Es sind die schwersten Proteste, die die frühere Sowjetrepublik je gesehen hat.

ARTE Journal: "Weißrussland: Willkürliche Verhaftungen junger Aktivisten"

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl wurden laut der Menschenrechtsorganisation Viasna allein von Mai bis Juli 1.100 Personen festgenommen.

Wer demonstriert, wird niedergeschlagen

Weißrussland ist seit Jahrzehnten für seine desolate Menschenrechtssituation bekannt. Von Wahlfälschung und Unterdrückung von Minderheiten, über eine eingeschränkte Pressefreiheit bis zur Vollstreckung der Todesstrafe durch Genickschuss: Lukaschenko ist nicht dafür bekannt, zimperlich mit seinen Kritikern umzugehen.

Bereits im Vorfeld der diesjährigen Präsidentschaftswahl wurde die Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit Füßen getreten: Lukaschenko ließ Proteste gewaltsam auflösen und Hunderte Aktivisten und kritische Journalisten festnehmen.

Paten für Weißrusslands Gefangene

Dutzende Menschen wurden im Vorfeld der Wahlen aus banalen Gründen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.

Kundgebung der Opposition am 31. Juli in Minsk

Oppositionskandidaten wurden zur Wahl nicht zugelassen oder verhaftet – so auch der populäre Blogger Sergej Tichanowski, der deshalb durch seine Frau Swetlana Tichanowskaja ersetzt wurde. Die 37-Jährige hat sich mit Veronika Tsepkalo, der Frau eines abgelehnten Kandidaten, und Maria Kolesnikowa, der Wahlkampfleiterin eines verhafteten Kandidaten, zu einem Bündnis zusammengeschlossen, auf dem alle Hoffnungen der Lukaschenko-Gegner lagen: Bei der größten Kundgebung der Opposition seit Jahren kamen laut Angaben des Zentrums für Menschenrechte Viasna am 31. Juli in Minsk mindestens 63.000 Menschen zusammen.

ARTE Journal: "Weißrussland: Die Herausforderin des Diktators"

Er hätte nie gedacht, dass eine Frau ihm politisch gefährlich werden könnte und sie hätte nie gedacht, gegen den Präsidenten anzutreten. Swetlana Tichanowskaja ist in Weißrussland der Star der Stunde.

Mit Wodka gegen Covid-19

Zuletzt war die Popularität des Langzeit-Präsidenten innerhalb der Bevölkerung gesunken, denn sein Umgang mit der Corona-Krise empörte viele Weißrussen: Der 65-Jährige hatte das Virus kleingeredet und Wodka, Feldarbeit und Saunagänge als Behandlungsmethode empfohlen. In Belarus sind knapp 570 Menschen an Covid-19 gestorben, fast 70.000 sind infiziert – auch Lukaschenko selber hat mittlerweile eine „symptomlose Infektion“ eingestanden.

Bei all dem Gegenwind gab sich der Staatschef kurz vor der Wahl entgegenkommend: Am 4. August betonte er in seiner live im Fernsehen übertragenen Rede, dass er sich Reformen nicht verschließen werde und auch zu Änderungen der Verfassung bereit sei. Was von diesen Zugeständnissen zu halten ist, wird sich zeigen.

Ein kurzer Überblick über die Menschenrechtslage in Weißrussland:

Wohlfahrt für gesellschaftlichen Frieden

Dass der Großteil der Bevölkerung die letzten Jahre nicht  aufbegehrt hat, liegt nicht zuletzt daran, dass Weißrussland im Vergleich zu anderen ehemaligen Sowjetstaaten wirtschaftlich relativ stabil ist. Lukaschenko hält seit einem Vierteljahrhundert an einer Art sozialistischen Marktwirtschaft und einem starken Wohlfahrtssystem fest: Mehr als 80 Prozent der Unternehmen sind auch weiterhin in staatlicher Hand. Laut offiziellen Zahlen lag die Arbeitslosigkeit 2019 bei nur 0,3 Prozent. Außerdem sind das Gesundheits- und Bildungssystem gratis, und die Korruption im Land ist im Vergleich zu Russland und der Ukraine niedrig.

Das Leben der Bevölkerung wird als angenehmer als in Russland angesehen“, erklärt Benno Zogg. Er ist Forscher am Center for Security Studies an der Technischen Hochschule Zürich und Sicherheitsexperte. Schaut mal über die Grenze nach Russland oder in die Ukraine, wollt ihr das? Oder gefällt es euch nicht ganz gut bei uns, wo Stabilität und eine gewisse Wohlfahrt schon lange besteht? Solche Fragen nutzt Lukaschenko, um seine Bürger bei der Stange zu halten. Laut Benno Zogg sogar recht erfolgreich: „Es ist ein Diskurs, den das Volk, das es nicht gewohnt ist, zu demokratischen Wahlen gerufen zu werden, ein Stück weit gelten lässt, wenn auch mit wenig Begeisterung.

Die Generation Lukaschenko

Vor zehn Jahren keimte eine richtige Protestbewegung auf: Viele junge Oppositionelle gingen gegen den Diktator auf die Straßen und verschwanden anschließend für mehrere Jahre hinter Gittern. Heute ist es anders: Die Jugend hat sich mit dem autoritären Regime arrangiert.

Spannungen mit Russland

Die Beziehungen zum mächtigen Nachbarn haben sich zuletzt deutlich verschlechtert. Erst konnten die beiden Länder Ende 2019 bei Gesprächen über eine Russisch-Weißrussische Union keine Einigung erzielen. Nun wirft Lukaschenko der russischen Regierung vor, sie habe sich in den Ausgang der Präsidentschaftswahl einmischen wollen: Die 33 Russen, die Ende Juli verhaftet worden sind, seien als Söldner eingeschleust worden, um im Vorfeld der Wahlen zusammen mit der Opposition „Massenunruhen“ anzustiften. Der Staatschef behauptete, Russland wolle die Lage im Land durch Sabotageakte und Cyberattacken destabilisieren. Die Opposition sowie der Kreml widersprechen. Beobachter sehen darin den Versuch Lukaschenkos, einen wankenden Autoritätsverlust im eigenen Land zu übertünchen. Fraglich ist, ob diese Anschuldigungen das Verhältnis zu Russland längerfristig negativ beeinflussen.

Zaghafte Öffnung gen Westen

Seit einigen Jahren orientiert sich Weißrussland vermehrt gen Westen und macht kleine Zugeständnisse. Denn der Krieg in der Ukraine und die Annexion der Krim 2014 haben Lukaschenko gezeigt, wie wichtig es ist, nicht ausschließlich von Russland abhängig zu sein.  Vom Konflikt in der Ukraine konnte er sogar profitieren: Er wurde zum Vermittler zwischen Ost und West und manövrierte sein Land aus der politischen Isolation. Immerhin sind die Minsker Abkommen – wenn auch nicht umgesetzt – bis heute die einzigen Friedensverträge, auf die sich die Konfliktparteien einigen konnten.

Es folgten zarte Schritte hin zu mehr Freiheit für die Opposition in Weißrussland. 2015 kamen mehrere politische Gefangene frei. Während der Präsidentschaftswahl 2015 und der Parlamentswahl 2016 blieb die Gewalt aus. Erstmals seit zwölf Jahren zogen zwei oppositionelle Abgeordnete ins Parlament ein und kritische Stimmen wurden zumindest geduldet.

Der Westen witterte Tauwetter in Weißrussland und ging auf Lukaschenko zu. Die Europäische Union hob daher im Februar 2016 Finanzsanktionen und Einreiseverbote gegen 170 weißrussische Bürger, darunter den Staatschef selbst, weitgehend auf.

Heute gibt sich Weißrussland weltoffen und das auch immer wieder bei internationalen Sportereignissen, wie bei der umstrittenen Eishockey-WM 2014 oder zuletzt bei den Biathlon-Europameisterschaften 2020 in Minsk. Doch die EU lässt sich nicht blenden.

Denn die Zeit oppositioneller Abgeordneter im Parlament ist seit den Wahlen 2019 vorbei. Und die Menschenrechtsverletzungen durch das Regime verhindern auch weiterhin, dass man im Westen mit Lukaschenko auf Augenhöhe diskutiert. Auch wenn der Langzeitherrscher zu dem ein oder anderen Staatsbesuch geladen wurde –  wie im November 2019 vom ehemaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz nach Österreich – brüstet sich auch weiterhin niemand damit, mit ihm zu verkehren. „Die EU ist nach wie vor sehr skeptisch“, erklärt Benno Zogg. „Sie macht sich keine Illusionen, denn der Charakter des Regimes hat sich nicht geändert. Sie zögert nicht, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern.“

Fraglich ist auch, ob Lukaschenko eine zu große Nähe überhaupt will. Kulturellen Pluralismus beäugt er kritisch, die westlichen Demokratien bezeichnete er einmal als „bekloppt“. Ideologisch gesehen steht er autokratischen Herrschern im Post-Sowjet-Raum immer noch deutlich näher als der EU.

Gipfel in Minsk

Von links nach rechts: Alexander Lukaschenko, Wladimir Putin, Angela Merkel, François Hollande und Petro Poroschenko

ARTE Journal blickt auf 25 Jahre Weißrussland unter Lukaschenko zurück.

Dokumentation: Weißrussland, Europas letzte Diktatur

Weißrussland – ein vergessenes Land am Rande Europas, in dem Alexander Lukaschenko seit 26 Jahren uneingeschränkt herrscht.

Weißrussland und Europa: Ein notwendiges Übel

Wenn Weißrussland sich also heute sachte dem Westen annähert, dann aus pragmatischen Gründen. Das gilt übrigens auch für die Motive der Europäer: Die EU setzt vor allem auf Stabilität in der Region. Europa ist sich der strategisch wichtigen Lage von Weißrussland zwischen der Ukraine, dem Baltikum, Polen und Russland durchaus bewusst und will einen weiteren Konflikt wie in der Ukraine vermeiden. Auch wenn das bedeutet, trotz der desolaten Menschenrechtslage zögerliche Reformen zu unterstützen, vermehrt im Land zu investieren und die Visa-Freiheit Schritt für Schritt zu erleichtern, bleibt Weißrussland für die Europäer als Pufferstaat ein notwendiges Übel.

Zukunftsperspektive: Geliebter Status quo

So klammert sich Lukaschenko an einen Status quo. Lange haben sich Eliten und Bevölkerung mit der Situation arrangiert, auch weil man es nicht anders kenne, sagt Sicherheitsexperte Benno Zogg: „Wenn es ein alternatives System gäbe, mit alternativen Politikern und Wahlen, die man wirklich als Wahlen bezeichnen kann, dann hätte die Bevölkerung wahrscheinlich nichts dagegen. Aber wenn das bedeuten würde, dass man einen Krieg mit Russland riskiert oder eine Einmischung des Westens oder eine starke Instabilität wie in der Ukraine, dann sieht dieses demokratische Ideal vielleicht doch nicht so verführerisch aus.“

Trotz dieser Risiken geht nun ein Ruck durch Weißrussland. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat Lukaschenko aufgefordert zurückzutreten. Ihre Unterst¨utzer bekräftigten ihre Pläne, weiter gegen „Europas letzten Diktator“ zu protestieren, bis sich etwas ändert.