Menschen mit Behinderung im Lockdown
Zwischen Sorge und Anpassung

Menschen mit Behinderung im Lockdown
Zwischen Sorge und Anpassung
Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sein Land Mitte März aufgrund der fortschreitenden Covid-19-Epidemie mit einer Ausgangssperre belegt, sehen sich die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung mit einer nie dagewesenen Situation konfrontiert. Die Entscheidung fällt, Vollzeitbewohner dieser spezialisierten Einrichtungen dazu zu ermutigen, an ihren Wohnsitz zurückzukehren. Dreißigtausend Erwachsene mit motorischen, geistigen und psychischen Behinderungen, die normalerweise in MAS- („Maison Accueil Spécialisé“, Wohnheime für Schwerbehinderte) und in FAM-Heimen („Foyer Accueil Médicalisé“, Pflegeeinrichtungen für Menschen mit Behinderung) betreut werden, kommen zurück in ihre Familien. Einrichtungen, die junge Menschen tagsüber begleiten oder betreuen, wie z.B. IMEs („Instituts Médico-Éducatifs“, Medizinisch-pädagogische Einrichtungen), die in der Regel Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung aufnehmen, schließen ihre Türen. Die Kinder müssen die Ausgangssperre zuhause mit ihren Verwandten einhalten.
Maskenmangel: Besorgte Familien
In den Einrichtungen finden keine Besuche mehr statt und für das Personal und die 310.000 Erwachsenen und Kinder, die nicht nach Hause zurückkehren konnten, beginnt wie überall die Jagd auf Schutzausrüstung und insbesondere auf Masken. „Es gab eine kleine Anlaufverzögerung“, räumt man im Staatssekretariat für Menschen mit Behinderung ein. Ein Mangel, „der keinesfalls einem Rückstand im Sektor der Behindertenpflege entspricht, sondern mit dem allgemeinen Problem der Ausstattung mit Masken in Frankreich zu Beginn der Krise zusammenhängt“.
Die Sorge ist groß, und wie im Falle der Senioren- und Pflegeheime beklagen viele Familien einen Mangel an Informationen und fühlen sich machtlos, erklärt Jean-Luc Duval, Präsident des ‘Collectif citoyen handicap’, einer Bürgerinitiative, die Menschen mit Behinderung und deren Familien vertritt. Er ist empört über die Situation, die von Versorgungslücken diktiert wird. „Wir wurden massiv von Eltern und Betreuern kontaktiert, die uns erklärten, dass sie keinen Schutz haben. Das Problem ist, dass die Leute hier ein- und ausgehen, […] und so tragen einige Betreuer, natürlich ganz unbeabsichtigt, das Virus in die Einrichtungen.“
Einigen seltene Einrichtungen hatten das Glück, über Vorräte zu verfügen, wie z.B. die FAM ‘Les Cigales’ in Straßburg, die derzeit 27 Erwachsene mit motorischen Einschränkungen beherbergt. „Wir hatten glücklicherweise schon vor einiger Zeit vorgebeugt, nach H1N1 [Variante des Influenza-A-Virus], sodass wir Vorräte an individueller Schutzausrüstung besaßen“, erklärt der Leiter Jean-François Santi. Diese Vorsichtsmaßnahmen ermöglichten es ihm, die Zeit zu überbrücken, bis seine Einrichtung vom Departement und der regionalen Gesundheitsbehörde versorgt wurde. Seit etwa zwei Wochen verbessert sich die Situation allmählich, doch in sozialen Netzwerken tauchen immer wieder Aufrufe zur Spende von Masken auf. Das Staatssekretariat für Menschen mit Behinderung bestätigt: „Wir haben das Gefühl, dass es ruhiger wird, zumindest was die Masken betrifft.“ Andere Ausrüstungsgegenstände jedoch bleiben Mangelware, wie zum Beispiel Schutzkittel.
Für Jean-François Danti ist dies nicht der Zeitpunkt, aufzuatmen oder sich auf die Schulter zu klopfen. „Im Moment haben wir glücklicherweise keine dramatischen Situationen zu bewältigen, was bei unseren Kollegen anders ist. Ich weiß, dass einige in Einrichtungen arbeiten, in denen es viel Leid gibt, in denen die Dinge ziemlich schwierig sind.“ Und er fügt hinzu: „Wir müssen vorsichtig sein, denn wir wissen, dass manche Kollegen dramatische Situationen erleben, mit Todesfällen in ihren Einrichtungen.“
„Wir wurden massiv von Eltern und Betreuern kontaktiert, die uns erklärten, dass sie keinen Schutz haben.“
Jean-Luc Duval
„Wir wissen, dass manche Kollegen dramatische Situationen erleben“
Jean-François Danti
Keine Angaben zur Zahl der Corona-Tests
Der epidemiologische Wochenbericht des französischen Gesundheitsamts vom 16. April schlüsselt erstmals die Infektionszahlen in Einrichtungen für Behinderte getrennt auf, neben jenen der Seniorenheime und der anderen medizinisch-sozialen Einrichtungen. Demnach sind zwischen dem 1. März und dem 14. April 305 Menschen mit Behinderungen, die in diesen Einrichtungen leben, an Covid-19 gestorben, vor Ort oder im Krankenhaus. Das gleiche Dokument berichtet über 6.400 infizierte Bewohner und 6.990 Fälle unter den Mitarbeitern. Diese Zahlen beinhalten sowohl bestätigte als auch mögliche Fälle.
Am 15. April teilte uns das Staatssekretariat für Menschen mit Behinderung mit, dass in den spezialisierten Einrichtungen „keine große Häufung an Infektionen verzeichnet“ worden sei. Ab wann kann man von einem „großen“ Ausbruch sprechen? Mehrere Einrichtungen sind durchaus stark betroffen, darunter die FAM Villebois-Mareuil nördlich von Paris, wo vier von 32 Einwohnern an Covid-19 starben, wie France Inter und Le Parisien berichteten. Diesen beiden Medien zufolge waren mehr als die Hälfte der Einwohner und 15 Mitarbeiter infiziert. APF-France Handicap, einer der wichtigsten Verbände, die in Frankreich spezialisierte Einrichtungen verwalten, verzeichnete bis zum 10. April zehn Todesfälle und 398 infizierte Bewohner und Fachkräfte innerhalb seiner Belegschaft.
Frankreich mangelt an Corona-Tests. Am 6. April versprach der Gesundheitsminister „eine umfassende Untersuchung der am stärksten gefährdeten Personen, vorrangig für die Ältesten, die anfälligsten Menschen mit Behinderung und die Fachkräften, die sie in den Einrichtungen und zu Hause begleiten […] ab dem ersten bestätigte Fall einer am Coronavirus erkrankten Person in der Einrichtung“. Das Ziel besteht darin, die positiv auf Covid-19 getesteten Personen zusammenzulegen und innerhalb der Einrichtungen zu isolieren. Dem Gesundheitsminister zufolge müssen diese Tests in Zusammenarbeit mit den Departements und unter anderem von „mobilen Einheiten“ durchgeführt werden. Seitdem haben mehrere Gemeinden in Senioren- und Pflegeheimen Testreihen gestartet. Auf die Frage nach der Anzahl an Tests, die in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung durchgeführt werden, konnte uns das Staatssekretariat nicht antworten.
Ethik vs. Ausgangssperre
Heute, da die Ausgangssperre verlängert wurde, sehen sich Einrichtungen für Menschen mit Behinderung mit „sehr starken Spannungen“ konfrontiert, befürchtet Prosper Teboul, Generaldirektor von APF-France Handicap. „Wir müssen mit der ständigen Spannung zwischen der Ausübung der individuellen Freiheit und den Zwängen, die mit dem Bedürfnis nach kollektiver Gesundheit verbunden sind, umgehen. Ich denke da konkret an die Anweisungen bezüglich der sozialen Distanzierung. Kurz gesagt, Ausgangssperre sollte nicht mit Isolation verwechselt werden.“ Er denkt dabei vor allem an Menschen, Erwachsene und Kinder, die Verhaltens- oder psychologische Probleme haben und für die diese Situation möglicherweise schwerer zu verstehen ist. Einige Einrichtungen haben auch mit Personalmangel zu kämpfen. Prosper Teboul schätzt, dass – mit Unterschieden von Region zu Region – etwa 20 Prozent der Pflegekräfte der Arbeit fernbleiben, da sie in Quarantäne oder krankgeschrieben sind oder zuhause sein müssen, um sich um ihre Kinder zu kümmern.
Die Trägerverbände denken darüber nach, die nach Hause ausquartierten Personen mit Behinderung für einige Tage wieder in den Einrichtungen aufzunehmen, um den Familien eine „Atempause“ zu verschaffen. Denn nicht alle leben in behindertengerechten Wohnungen. „Ich kenne Fälle von Familien aus sehr einfachen Verhältnissen, die ihr Kind zurückgenommen haben, das normalerweise zum Beispiel in einer medizinisch-pädagogische Einrichtung untergebracht ist, und die jetzt zu fünft auf 30-40 m² leben“, sagt Prosper Teboul.
„Wir müssen mit der ständigen Spannung zwischen der Ausübung der individuellen Freiheit und dem Bedürfnis nach kollektiver Gesundheit umgehen.“
Prosper Teboul,
Generaldirektor APF-France Handicap
Die Mehrheit der Menschen mit Behinderung in Frankreich lebt mit oder ohne Betreuer im eigenen Heim. Seit Beginn der Pandemie stehen viele vor der Herausforderung, ihre Pfleger angemessen zu schützen. Es sind Tausende, die jeden Tag in den Wohnungen der Personen mit Behinderung ein- und ausgehen, um ihnen beim Waschen, Einkaufen und anderen Aufgaben zu helfen. Und obwohl sich die Situation zu verbessern beginnt, bleibt das Problem dasselbe: der Mangel an Schutzausrüstung. Infolgedessen haben einige Menschen mit Behinderung, vor allem jene, die mit einer Pflegekraft zusammenleben, aufgehört, diese in Anspruch zu nehmen. Der APF-France Handicap, der neben den von ihm verwalteten Einrichtungen auch mit Haushaltshilfen arbeitet, schätzt, dass seine Tätigkeit in diesem Bereich um 20 Prozent zurückgegangen ist.
Informationslücken über Masken
Prosper Teboul erklärt, dass er 200.000 Masken bestellt hat, um dieses Problem zu lösen, aber kleinere Verbände und Unabhängige haben diese Möglichkeit nicht. In Nancy kümmert sich Sandrine Barbas, selbständige Pflegerin, täglich um Charles Betka, 38, der an der Charcot-Krankheit, einer neurodegenerativen Erkrankung, leidet. Als Betkas Eltern die Epidemie kommen sahen, hatten sie einen kleinen Vorrat an Masken gekauft, den Barbas so lange nutzen konnte, bis sie sie sich schließlich selbst besorgen musste, in der Woche vom 23. März. „Ich ging in die Apotheke, weil sie Masken für Haushaltshilfen ausgaben, und der Apotheker gab mir neun Masken für die Woche. In der nächsten Woche sagte er: Es tut mir leid, ich kann Ihnen keine mehr geben.“ Denn in der Zwischenzeit war beschlossen worden, dass die regionalen Gesundheitsbehörden Masken für Haushaltshilfen zur Verfügung stellen würden – doch die Informationen kamen nicht überall an. Seither sind wieder die Apotheken für die Ausgabe der gleichen Masken zuständig.
„Zuhause gibt es mehrere Betreuer: morgens kommt Sandrine und wir haben auch externe Helfer, die nachmittags kommen, um sich um ihn zu kümmern, und abends, um ihn ins Bett zu bringen“, sagt Anne-Marie Betka, die Mutter von Charles. „Wir bräuchten also fünf Masken pro Tag, um sicher zu sein und Charles und die Betreuer zu schützen.“
Yann Harmand aus Nancy, 48, lebt mit Zerebralparese. Er berichtet von den gleichen Schwierigkeiten: „Am Anfang war es echt schwer, an Masken zu kommen, und ich hatte eine Pflegekraft, die mir drohte, nicht mehr zu kommen, wenn ich keine Ausrüstung habe.“
Viele Menschen fühlen sich allein gelassen und sind gezwungen – soweit sie dazu in der Lage sind – allein für ihren Fall zu kämpfen, ärgert sich Anne-Marie Betka: „Jeder muss allein zurechtkommen. […] Es wird über Behinderung im Allgemeinen gesprochen, aber es wird nicht erwähnt, dass es besonders schwere Fälle gibt, Menschen, die isoliert sind – ich kenne auch andere Familien – und die keine Betreuungslösung, keine Unterstützung und keine Masken haben. Meiner Ansicht nach ist der sanitäre Skandal viel größer, als man sagt, denn es gibt wirklich Menschen, die im Leben ganz allein dastehen.“
„Meiner Ansicht nach ist der sanitäre Skandal viel größer, als man sagt, denn es gibt wirklich Menschen, die im Leben ganz allein dastehen.“
Anne-Marie Betka
Anpassungsvermögen gefragt
Catherine Thouvenin, die seit einem Verkehrsunfall im Rollstuhl sitzt, sind die Masken nicht ausgegangen. Aber als die Epidemie einsetzte, beschloss sie sehr schnell, ihren Lebensstil anzupassen. „Ich habe schnell entschieden, meine Wohnung nicht mehr zu verlassen. Mein Raum der Freiheit liegt in der Zurückgezogenheit meines eigenen Zuhauses.“ Sie verzichtet vorübergehend auf die Person, die sonst zum Reinigen kam, und achtet sehr auf ihre Ernährung und Gesundheit. „Sollte ich irgendetwas bekommen, weswegen ich mein Zuhause verlassen müsste, verlöre ich diese Freiheit und Autonomie. Denn in keinem anderen Umfeld wäre ich jemals so unabhängig, wie in meinem.“
Sophie*, 30, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, hat mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Moment ist das Schwierigste für sie die Störung ihres Alltags und ihrer Gewohnheiten, erzählt sie uns in einer E-Mail. „Seit der Ausgangssperre fühle ich mich verloren und unruhig. Es ist mein äußeres Gleichgewicht, das beeinträchtigt ist, wobei es mir ohnehin schon schwerfällt, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und es mir nicht gelingt, mein inneres Gleichgewicht herzustellen. Ich verliere meine menschlichen, räumlichen und zeitlichen Bezugspunkte, die mir Tag für Tag helfen, nicht unterzugehen, die mir einen Rahmen geben, meine Ängste und mein Unbehagen einzudämmen.“ Die junge Frau, für die der Sport, insbesondere das Mountainbiken, unerlässlich war, muss „sehr kreativ werden“, um Wege zu finden, sich auszupowern.
So war Sophie erleichtert zu erfahren, dass sich die Ausgangsbeschränkungen für einige Menschen mit Behinderung gelockert haben. Seit dem 2. April dürfen diese die Wohnung wieder verlassen, so häufig sie wollen, ohne auf eine Stunde und einen Umkreis von einem Kilometer beschränkt zu sein. „Es ist eine großartige Idee, die die Eltern wirklich entlastet“, bestätigt Dr. Oriane Kolb, Kinderpsychiaterin in einer Elsässer Tagesklinik (Epsan), die insbesondere Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren betreut.
„Sollte ich irgendetwas bekommen, weswegen ich mein Zuhause verlassen müsste, verlöre ich diese Freiheit und Autonomie.“
Catherine Thouvenin
Sorge um Menschen mit psychischen Einschränkungen
Sie und ihre Kollegen mussten die Versorgung ihrer kleinen Patienten anpassen: Die Betreuung in Gruppen und beinahe alle Konsultationen vor Ort wurden eingestellt, stattdessen Aktivitäten-Planer erstellt und vor allem sehr regelmäßige telefonische Kontakte mit den Familien aufgebaut. „So können wir sie beruhigen, sie beraten, wenn sie mit ihren Kindern erzieherische Schwierigkeiten haben, sie unterstützen und ermutigen und sie im Blick behalten“, sagt sie. „Wenn wir das Gefühl haben, dass die Situation zu kompliziert wird, können wir etwas mehr eingreifen.“
Sophie hat mehrere Termine pro Woche im Krankenhaus, sowie regelmäßige telefonische Beratungen. Aber sie empfindet deren Wirksamkeit als begrenzt. Marie*, 30, psychotisch, erlebt die Dinge anders. Krankenschwestern kommen jeden Tag zu ihr nach Hause, um ihr Medikamente zu verabreichen und bei der Gelegenheit zu sehen, wie es ihr geht. Den Kontakt zu ihrem Psychiater hat sie noch nicht wieder aufgenommen, obwohl dieser nun Telefongespräche anbietet. Die Situation veranlasst sie, ihre Betreuung außerhalb der Krise zu überdenken: „Normalerweise sieht man die Leute von Angesicht zu Angesicht und das lässt mich über andere Modalitäten nachdenken, vor allem in Bezug auf meinen Psychiater, denn ich war es gewohnt, ihn einmal pro Woche zu sehen.“
Die Angst um die Gesundheit von Menschen mit psychischen Einschränkungen ist im Moment sehr groß. Sophie gibt das so wieder: „Ich denke, psychiatrische Patienten verlieren im Moment viel. Jede Minute ist ein ständiger Kampf, um einen Selbstmord zu vermeiden“, bekennt sie.
Dr. Oriane Kolb ist auch besorgt wegen der Kinder, die nicht begleitet werden können. „Schulen, Kindergärten und Kinderärzte sind sehr wichtig, um Patienten und Familien in Schwierigkeiten zu erkennen. Und im Moment sind sie geschlossen oder sie nehmen nur Notfälle an und verfügen nicht mehr über diesen Aspekt des Screenings in der Allgemeinbevölkerung.“ Um es zusammenzufassen: „Die Patienten, um die wir uns am wenigsten Sorgen machen, sind diejenigen, die wir begleiten.“
*Vornamen wurden auf Wunsch der betroffenen Personen geändert
Journalistin : Marianne Skorpis
Graphiken : Loïc Bertrand
„Ich denke, psychiatrische Patienten verlieren im Moment viel“
Sophie