Wie selten sind seltene Erkrankungen?

Seltene Erkrankungen

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28. Februar: „Internationaler Tag der Seltenen Erkrankungen“

Bis zur Diagnose einer seltenen Erkrankung ist es für Betroffene meist ein langer Weg. Und ihre Odyssee ist damit oft noch nicht vorbei – auch weil es an Wissen mangelt und es für viele seltene Erkrankungen noch keine spezifischen Therapien gibt.

von Irina Steinhauer

Die „Ice-Bucket-Challenge“ war im Sommer 2014 in aller Munde. Videos, in denen sich Menschen Kübel voller Eiswasser über den Kopf schütten ließen, überfluteten Facebook und Twitter. Die Idee dahinter: auf die seltene Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aufmerksam machen und Spenden für ihre Erforschung sammeln.

ALS ist eine von mehreren tausend seltenen Erkrankungen weltweit. Sie verlaufen meist chronisch, sind häufig lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität. Dank der „Ice-Bucket-Challenge“ ist die Aufmerksamkeit für ALS gestiegen, viele andere seltene Erkrankungen werden allerdings nach wie vor wenig beachtet.

Um die „Waisen der Medizin“ bekannter zu machen und für die Belange der Betroffenen zu sensibilisieren, findet seit 2008 immer am letzten Tag im Februar der „Internationale Tag der Seltenen Erkrankungen“ statt. Wie viele Menschen sind betroffen? Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Diagnose und Therapie? Was wird getan, um die Forschung voranzubringen? ARTE beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wann gilt eine Erkrankung als selten?

Als selten wird in der Europäischen Union (EU) eine Erkrankung bezeichnet, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Weltweit gibt es mehrere tausend verschiedene seltene Erkrankungen, auch „Orphan Diseases“ („Waisenkrankheiten“) genannt. Von den bekannten Krankheiten auf der Welt gilt mindestens jede fünfte als selten.

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Wie viele Betroffene gibt es?

Etwa 30 Millionen Menschen leben in der EU mit einer seltenen Erkrankung. Das sind rund sechs Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: Alle Patienten zusammengenommen entsprechen ungefähr der Anzahl an Diabetikern in der EU. In Deutschland liegt die Zahl der Betroffenen Schätzungen zufolge bei vier Millionen, was in etwa der Einwohnerzahl des Bundeslands Rheinland-Pfalz gleichkommt.

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Laut Professor Dr. Holger Cario, Oberarzt und Vorstandsmitglied des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) Ulm, ist das eine ganze Menge. Dabei variiere die Zahl der Betroffenen stark je nach Krankheit. So gibt es Cario zufolge seltene Erkrankungen, von denen deutschlandweit mehrere zehntausend Menschen betroffen sind. Zum Beispiel die Erbkrankheit Sphärozytose, eine Form der Blutarmut, die besser bekannt ist als „Kugelzellanämie“. Doch es gebe auch Raritäten mit nur einigen hundert Patienten, etwa die seltene Stoffwechselstörung Morbus Fabry, bei der der Abbau von Fettstoffen in den Körperzellen gestört ist.

Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Diagnose und Therapie?

Die Diagnose von seltenen Erkrankungen ist schwierig und oft langwierig. Häufig haben Betroffene bereits eine Odyssee von Arztterminen hinter sich, bevor ihre Krankheit erkannt wird. Im Durchschnitt vergehen dabei sieben Jahre, wie die deutsche „Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen“ (ACHSE) sagt.

ACHSE kritisiert: „Es fehlt an Spezialisten und Spezialambulanzen.“ Außerdem sei oftmals keine wirksame Therapie vorhanden, weil auf dem Gebiet nur wenig geforscht werde.

Oft leben nur wenige Menschen mit derselben Krankheit an einem Ort, wodurch sich dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zufolge Studien schwieriger durchführen lassen, und auch die wenigen Experten arbeiten weit verteilt. Laut Oberarzt Cario fehlt es in Deutschland vor allem an Strukturen und unterstützenden Prozessen, wie zum Beispiel psychosozialer Betreuung. „Da gibt es Defizite“, sagt der Oberarzt. Er ist der Meinung, dass viele Betroffene in Deutschland nicht ausreichend versorgt werden.

Mit vereinten Kräften gegen seltene Erkrankungen?

Wegen der geringen Zahl an Betroffenen und Experten ist es wichtig, Ressourcen auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen zu bündeln und den Austausch zu fördern. Die EU hat dafür in den vergangenen Jahren eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Zum Beispiel mit dem Aufbau Europäischer Referenznetzwerke (ERN), die Fachwissen aus ganz Europa zusammenführen und der Forschungspartnerschaft „European Joint Programme on Rare Diseases“ (EJP RD), die mit einem Budget von 100 Millionen Euro neue Behandlungs- und Diagnoseinstrumente erforschen soll.

In Deutschland gründeten das BMG, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und ACHSE auf Empfehlung der EU das „Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ (NAMSE), das im Jahr 2013 einen Aktionsplan mit 52 Maßnahmen veröffentlichte. Ein Schwerpunkt ist die Bildung von national anerkannten und miteinander vernetzten Fachzentren.

„Der Aktionsplan bildet die Basis für Zentren für Seltene Erkrankungen in Deutschland“, erklärt Cario.

Dem Oberarzt zufolge hapert es allerdings an der Weiterentwicklung, vor allem die Finanzierung der Zentren gehe nur sehr schleppend voran. ACHSE fordert, der NAMSE-Aktionsplan müsse schnell umgesetzt werden – allen voran die geplante Zentrenstruktur. Außerdem solle die Politik den Zugang zu Medikamenten für seltene Erkrankungen, sogenannte „Orphan Drugs“, sicherstellen, Strukturen der Selbsthilfe stärken und die Forschung vorantreiben.

Warum wird die Entwicklung von „Orphan Drugs“ von der EU unterstützt?

Für Pharma-Unternehmen ist die Entwicklung von „Orphan Drugs“ unter regulären Bedingungen wenig attraktiv, wie das BMG sagt. Ausgaben für Forschung und Entwicklung könnten wegen der kleinen Märkte kaum gedeckt werden. Um Anreize zu schaffen, trat im Jahr 2000 die EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden in Kraft. Sie soll den wirtschaftlichen Nachteil der „Orphan Drugs“ kompensieren.

„Ich habe den Eindruck, dass die Verordnung die Firmen motiviert“, meint Cario. „Sie ist wichtig und führt dazu, dass Dinge schneller umgesetzt werden.“

Laut dem Verband der forschenden Pharma-Unternehmen in Deutschland (vfa) waren Mitte Februar dieses Jahres 110 „Orphan-Drugs“ in der EU zugelassen. Weitere 1.900 werden zurzeit entwickelt. Auch ACHSE bewertet die Entwicklung positiv. Angesichts der mehr als 6.000 Erkrankungen bleibe aber noch einiges zu tun.

28 Februar 2019