„Einer von fünf Millionen“
„Sehen Sie sich um! Finden Sie das normal? Die Menschen sind hier, weil sie es satt haben!“ Irena ist Augenärztin in Belgrad. Normalerweise geht sie nicht auf die Straße. Doch seit Mitte Dezember ist das für viele Serben zur Gewohnheit geworden. „Die Demonstranten kommen aus ganz unterschiedlichen Milieus“, erklärt Loïc Trèsgourès, Dozent am katholischen Institut Paris. „Es sind Studenten und Rentner, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Liberale und Konservative.“ So finden sich im Demonstrationszug gleich neben den Spruchbändern der LGBT Bewegung die der nationalistischen Bewegung Dveri. Die Demonstranten sind friedlich und haben das gleiche Ziel: den serbischen Machthabern zu zeigen, was es heißt, wenn eine Million Menschen auf die Straße gehen. Damit beziehen sie sich auf eine Aussage des Präsidenten Aleksandar Vučić, die nach der ersten Versammlung bekannt wurde: “Selbst wenn fünf Millionen Menschen demonstrieren, ich werde dem Druck der Straße nicht nachgeben“. In einem Land mit sieben Millionen Einwohnern käme das allerdings einer Revolution gleich.
Ein enormes Ausmaß
Es ist nicht das erste Mal, dass die Serben demonstrieren, erinnert Loïc Trégourès. Zu Zeiten des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević, vom Internationalen Gerichtshof wegen Kriegsverbrechen verurteilt, erschütterten Protestwellen das Land. Zuletzt strömten tausende Serben auf die Straßen der Hauptstadt, als der ehemalige Regierungschef im März 2017 zum Präsidenten gewählt wurde. Sie beklagten gefälschte Wahlen und einen unlauteren Wahlkampf. „Heute ist auffällig, dass sich die Bewegung auf andere Städte ausweitet“, so der Balkanexperte. Die Demonstrationen finden auch in Regionen statt, die traditionell von den Machthabern beherrscht werden, in denen die Menschen ärmer sind und weniger Zugang zu Informationen haben. Für den Wissenschaftler ist das ein Zeichen dafür, dass hier gerade etwas passiert.
Angriff während einer Veranstaltung
Auslöser für die Bewegung war der Angriff auf Borko Stefanović, einen der Oppositionsführer. Seine Vereinigung hatte Anfang Dezember im Süden des Landes ein Treffen organisiert – in einer Stadt, die als Hochburg des Geheimdienstes gilt. Am Telefon erzählt er uns: „Als ich das Gebäude betrat, ging ich an drei Personen vorbei, die mich erst grüßten und mir dann mit einer Eisenstange einen Schlag in den Nacken verpassten“. Zwei seiner Mitarbeiter wurden ebenfalls verletzt. Seither leben die Parteimitglieder in Angst. Es war nicht das erste Mal, dass Intellektuelle oder Mitglieder der Opposition zum Ziel von Angriffen wurden: In Belgrad ist vor kurzem das Haus eines Journalisten in Brand gesetzt worden. Die Drahtzieher sollen aus dem regierungsnahen Milieu stammen. Eine Atmosphäre der Angst macht sich breit, die an die dunklen Stunden der Diktatur erinnert: „Einige serbische Journalisten sagen, die Situation sei schlimmer als unter Milošević“, erklärt Loïc Trégourès. „Denn die Regierung unterdrückt nicht mehr offen, verstärkt aber ihre einschüchternden Maßnahmen.“ Das Ergebnis: Selbstzensur wird zur Normalität. Nur noch wenige Stimmen erheben sich gegen die Regierung. Bei den älteren Demonstranten werden Erinnerungen wach. Sie fühlen sich zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt.
„Ein korruptes Land“
Ein weiterer Grund der Revolte: die allmähliche Übernahme der Medien durch staatliche Hand. Mit einem raffinierten Trick erwarb die Regierung kürzlich einen privaten Kabelanbieter und angelte sich damit gleich mehrere nationale Fernsehsender und Radiostationen. Die Folge: der Präsident läuft auf allen Kanälen, die Regierung kontrolliert fast alle Medien des Landes. Die Bürger fordern nun die Absetzung des Leiters des öffentlichen Dienstes und des Innenministers. „Sie demonstrieren, weil sie in diesem korrupten Land keine Zukunftsperspektive sehen“, sagt Oppositionsführer Borko Stefanović. Ihm reicht es nicht, die regierende Klasse zu stürzen. Das ganze System muss sich ändern.
Die Wahlen als Waffe der Regierung
Die Demonstranten geben nicht auf, sie sind das sechste Mal in Folge auf der Straße. Sie wollen die Regierung zu einer Reaktion zwingen. „Entweder der Präsident kommt unseren Forderungen nach oder er setzt seine harte Politik bis zu den nächsten Wahlen fort“, sagt Borko voraus. Unter dem Druck der Straße könnte Aleksander Vučić tatsächlich Neuwahlen des Parlaments ausrufen. Doch diese Option stellt niemanden zufrieden, denn mit einer gespaltenen Opposition und einem allmächtigen Präsidenten ist das Ergebnis der Wahl schon vorher klar. „Für die Regierung sind vorgezogene Wahlen ein Weg, ihre Gegner zum Schweigen zu bringen“, analysiert Loïc Trégourès, „denn die Wahl würde dazu dienen, ihre Politik zu legitimieren“. Auf die Nachbarländer würde Vučić zudem wie ein Verteidiger der Demokratie wirken, der seinen Bürgern zuhört.
Europa schweigt
Seit seiner Wahl nimmt der neue Präsident vermehrt Treffen im Ausland wahr: auf seinem Twitter-Account liest man Nachrichten, in denen sich die rumänische Premierministerin bedankt und der Präsident des Europäischen Rats Donald Tusk ihm Mut zuspricht. Denn der ehemalige Ultranationalist und Minister im Milošević-Regime zeigt sich heute als eifriger Pro-Europäer. „Die westlichen Länder unterstützen ihn, da sie glauben, er sei der einzige, der den Kosovo-Konflikt lösen kann. Außerdem sehen sie in ihm einen Garant für Stabilität in der Region – was falsch ist“, erklärt Loïc Trégourès. In der Tat haben die im Sommer eingeleiteten Gebietsaustausche mit Pristina die Spannungen zwischen dem Kosovo und Serbien befeuert. Anfang Dezember verkündete der Kosovo seine Entscheidung, sich mit einer Armee auszustatten.
Auswandern – der einzige Ausweg?
Serbien hat 2009 zum ersten Mal für die Europäische Union kandidiert. Zehn Jahre später zieht sich das Verfahren noch immer hin. Die Serben glauben nicht mehr daran, in die EU aufgenommen zu werden. Schlimmer noch: weniger als 50% von ihnen befürworten den Beitritt des Landes. „Sie haben verstanden, dass die Europäische Union sie nicht haben will“, meint Trégourès. Doch Alternativen gibt es kaum. Denn seit der Wirtschaftskrise 2009 verschlechtert sich der Lebensstandard in Serbien. Der Dinar hat gegenüber dem Euro die Hälfte seines Wertes verloren. Also verlassen die Serben ihr Land. Wie in den anderen Balkanstaaten gehen die meisten auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland oder Österreich „Sie gehen fort, weil sie für sich und ihre Kinder ein normales Leben wollen“, erklärt Loïc Trégourès. „Ein Leben, für das man kein Parteimitglied sein muss, um Arbeit zu finden.“ Sechzig Millionen junge Menschen verlassen Serbien jedes Jahr – Tendenz steigend. Für die Demonstranten ist es an der Zeit, die Kontrolle zu übernehmen und die Auswanderung zu stoppen.