Guillaume Braun wurde Will. Unter dem Deckmantel seines eigens für die Recherchen angelegten Avatars begann der Autor, sich in der Community einzurichten. Er durchstreifte die Plattform und empfand eine gewisse Faszination für diese Welt, in der millionenschwere Superstars und völlig zuschauerlose Streamer gleichermaßen unterwegs sind.
Er nahm an Chats teil, kommentierte die Inhalte anderer und streamte selbst. Täglich schaute er sich stundenlang Videos an, bis er das Vertrauen eines renommierten Streamers gewann, der ihn als Moderator für seinen Channel engagierte.
Mit seinem Avatar schuf Guillaume nicht nur eine verbesserte Version seiner selbst, sondern ein ganzes Universum mit einer eigenen Ästhetik, einem eigenen Tonfall und einer besonderen Art, die Passanten in den Straßen und Gassen von Twitch anzusprechen.
Diese praktische Vorgehensweise entsprach seinem intellektuellen Ansatz, jegliche Sensationslust zu vermeiden, um „die verkannteste Popkultur der heutigen Zeit“ besser zu verstehen.
Für das Unterfangen bedurfte es auch einer gewissen Selbstlosigkeit und Bescheidenheit. Streamen ist ein Full-Time-Job, wenn man Zuschauer gewinnen will. Will spielte erst mal vor leerem Saal. Er hätte für das Experiment natürlich ein bereits bestehendes Konto nutzen können (etwa das von Akufen), doch er schlüpfte lieber in die Haut eines völligen Neulings.
Und schließlich wurde er einer von ihnen.
Das Duo
Das Streamen auf Twitch ist eine zugleich gemeinsame und einsame Erfahrung. Sehr persönlich, manchmal egozentrisch und zugleich zutiefst sozial.
Will hatte nicht alle Trümpfe in der Hand, um in dieser besonderen Gesellschaft zu glänzen. Um sein Projekt erfolgreich durchzuführen, umgab er sich daher mit einem passionierten Team. Die Produzenten von NFB rieten ihm zu einer Zusammenarbeit mit Marie-Eve Tremblay, einer Journalistin von Radio-Canada, die unter anderem mit der Serie Corde sensible bekannt wurde.
Marie-Eve Tremblay ist eine erfahrene Community Managerin und Produzentin von Live-Videos (bei denen während der Aufnahmen mit den Zuschauern interagiert wird), die gern unbekannte Welten erkundet. Sie kannte sich nicht besonders mit Videospielen aus und empfand auch keine Faszination für die Streamer, so dass sie während der Arbeiten an der Dokumentation stets eine kritische Distanz wahrte.
Als ideale Kandidatin wurde sie ausgewählt, um Guillaume bei seinen Recherchen zu unterstützen. Auf der ersten TwitchCon der Geschichte wurde die Zusammenarbeit besiegelt.
Diskussion
Die TwitchCon-Messen 2015 in San Francisco und 2016 in San Diego stellten entscheidende Etappen in der Arbeit der beiden Regisseure dar. Der direkte Kontakt zu Streamern und Viewern war ihnen besonders wichtig. Dies war umso grundlegender, als zu dem Zeitpunkt, als sie Beziehungen zu den künftigen Protagonist-innen des Projekts knüpfen wollten, die virtuellen Ausspielwege durch eine tiefe Kluft von der realen Welt getrennt waren.
Im Kontakt mit der Realität nahm das Doku-Projekt Gestalt an: Bei der TwitchCon wurde den Regisseuren die volle Tragweite des Phänomens Streaming bewusst: Populäre Streamer werden von ihren Fans geradezu vergöttert … und es ist fast unmöglich, sich mit ihnen zu einem Treffen zu verabreden!